Paranoia
Sie sich selbst lebendig begraben wollen, dann bitte sehr. Ich lasse mich jedenfalls nicht von Ihnen vorführen. Was ist das? Was?«
Ich höre, wie er mit der Rückseite seiner Hand auf ein Blatt Papier schlägt. Mein Bericht, schätze ich. Ich sehe zu Fynn, der sich gerade beim Zahlen ganz gut schlägt. Vorsichtig greift er nach dem Tablett und kommt auf mich zu. Er will immer in diese Selbstbedienungsläden gehen, er sagt, das mache ihm Spaß. Also gehen wir in Selbstbedienungsläden. Ich grinse aufmunternd, nehme meine Hand aus der Tasche und klopfe ihm auf die Schulter. Übernehme einhändig das Tablett und navigiere uns zu einem Tisch. Dabei flüstere ich in mein Handy: »Hören Sie, Robert, wenn Sie mir sagen, was Sie so erzürnt, lässt sich das doch bestimmt aufklären.«
»Ich soll Ihnen sagen, was mich erzürnt? Sagen Sie, schön langsam glaube ich … das ist doch wohl der Gipfel. Ist das denn die … wissen Sie was?«
Ich schweige, natürlich weiß ich nicht was. Obwohl am Telefon, nicke ich wie ein treuer, aber verstörter Mitarbeiter und suche gleichzeitig nach der versteckten Botschaft in Robert Lutz’ Worten. Er legt auf.
Ich sehe auf mein Handy, prüfe, ob er wirklich aufgelegt hat, ja, das Basis-Display erscheint. »Oh, Funkloch.« Ich greife nach meinem Bananenshake. Eine vom Schock ausgelöste Überkonzentration vermittelt mir kurzfristig den Eindruck, schärfer zu sehen, lauter zu hören. Ich lächle Fynn zu, versuche krampfhaft, nicht an das Telefonat zu denken, sondern mich nur ihm zu widmen. Ich murmele: »Na, alles glatt gelaufen an der Kasse?«, und ziehe am Strohhalm. Er nickt.
Ein paar Momente hängen wir beide unseren Gedanken nach.
Sonst sprudelt er nur so vor Sachen, die er mir erzählen will. Ich lege mich darauf fest, ihn kommenzulassen, und erwidere einen seiner Blicke mit einem Blick zur Decke. Er folgt meinen Augen, sieht mich dann fragend an, wieso, und ich strecke ihm kurz die Spitze der Zungenspitze raus: reingefallen. Bemüht albern. Vielleicht um mir selbst wieder etwas vertrauter zu werden. Und dann schauen wir noch ein bisschen rum, und seine Hände formen ein Rechteck auf dem Tisch. Meine Daumen und Zeigefinger massieren sich gegenseitig. Und das ist völlig okay. Angenehm gemeinsam schweigen konnte ich auch immer mit Christian.
Hinter der Theke entgleitet einer Angestellten ein Stahltablett, und es kracht laut scheppernd auf den Boden. Metallisch laut und für einen Augenblick buchstäblich ohrenbetäubend. Erheiterung im ganzen Café. Vereinzelt sogar Lacher, sogar mit der Hand vor dem Mund kichern. Was ist das denn? Ich schaueumher. Das gibt’s doch nicht. Die Leute sind mal wieder aufgelegt, sich zu amüsieren. Vom Anlass unabhängig. Es kracht, und sie lachen. Aus purer Lust auf dummes Gackern. Immer bereit, etwas Unerwartetes zu einem amüsanten Ereignis in ihrem leeren Leben zu stilisieren. Selbstmanipulation. Ich beobachte das etwas, lache freudlos durch die Nase. Belustigung aus Nichtbeteiligtheit. Ich verstehe das nicht.
Wie um meinen Mund zu zügeln, beiße ich mir auf die Lippe, um Fynn mit meiner hasserfüllten Verwunderung nicht zu belasten.
Wir machen weiter mit dem Verzehr der süßen Pampe. Fynn sagt endlich was und bringt das Kunststück fertig, von der »Moonraker«-Nachbesprechung zu irgendeinem aktuellen Videospiel überzuleiten, von dem ich sicher bin, er möchte es von mir zu Weihnachten geschenkt bekommen. Ich merke mir den Namen, der nach Blut und Gewalt klingt, und als er auf die Toilette geht, sage ich: »Lass dir Zeit und erstatte genauestens Bericht.« Er lächelt, mit einem dekorativen Zug von Souveränität-haha-den-Spruch-kenn-ich-schon-von-dir im Gesicht, und ich greife in meine linke Jackett-Innentasche, entfalte beinahe ängstlich die Kopie der Stellungnahme, die ich Lutz gestern geschrieben habe. Vielleicht finde ich darin den Stein des Anstoßes, den Grund für seine Irrsinns-Wut.
Das gibt’s doch alles gar nicht.
Ich ruckle mit meinem Hintern und beginne zu lesen.
15
München, den 24/10/2011
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