Paranoia
halbherzig, macht eine müde Drehungund verschwindet im dunklen Korridor, ohne dass wir uns noch mal umarmt hätten. Zurück in den Knast.
Seine Körperhaltung, der gebeugte Kopf, der schlurfende Gang, diese absichtsvolle Langsamkeit verbergen Angst.
Und plötzlich sehe ich wieder mein altes Zehnbettzimmer vor mir. Das kalte Licht und die zweistöckigen Betten. Die Spinde aus weißem Blech und die ganzen Testosteron-geladenen halbstarken Jungs, die mit elf schon Haare an den Eiern hatten und die jedem, der aussah, als könne er fehlerfrei bis drei zählen, immer nur auf die Fresse hauen wollten, und unter denen man immer nur zwei Dinge war: in Gefahr und – allein.
Ich bete, dass der Viertklässler, den Fynn heute dreimal, immer nur ganz kurz und ganz nebenbei erwähnt hat, ihm nur den Kopf in die Kloschüssel gehalten und ihm nicht irgendwas in den Arsch oder Mund geschoben hat. Ich bete zu dem scheiß Gott, an den ich sowieso nicht glaube. Aber vielleicht bete ich auch zu dem Gott, an den Fynn glaubt.
Dann höre ich wieder dem adretten Anstaltsleiter Herrn Weber zu. Ich übertrage meine Aufmerksamkeit von Fynns Rücken auf das Gesicht von diesem kranken Stück Abfall. Ich meine, wer wird denn Heimvorsteher für kleine Jungs oder Gefängniswärter oder Priester, wenn nicht gestörte Sadisten, Soziopaten und abartige Folterknechte?
Tyrannen, Faschisten, Despoten? Versteckt hinter altruistischen Idealen, selbstloser Verantwortung, passgenauer Barmherzigkeit?
Solche Mutmaßungen kommen einem beinah naiv vor. Weil sie zu naheliegend anmuten, zu simplifizierend. Aber ich weiß, dass das Naheliegende der Wahrheit immer am nächsten kommt. Das Offensichtliche ist meist das Wahrscheinlichste. Der Leihopa kann unmöglich ein Kinderschänder sein? Es wäre zu offensichtlich? Der Wärter im Leichenschauhauskann kein Nekrophiler sein? Zu sehr Klischee? Nein. Ein perverser Irrglaube. Nichts ist grundlos. Nichts, was man sagt oder tut, ist Zufall. Das ist nicht vereinfachend. Das ist wahr.
Und ich gestatte mir die Wahrheit. Aber das kann man nur, wenn man nichts mehr zu verlieren hat.
»Wir veranstalten in drei Wochen den ersten Abend für alle Angehörigen und Paten unserer zweiten Jahrgangsstufe. Elternabend sozusagen.« Herr Weber lächelt mild. »Es wäre sehr schön, wenn Sie auch vorbeikommen könnten. Fynns Klassenlehrerin hält einen kleinen Vortrag über die Lernziele und den Fortschritt der Schüler, und im Anschluss wird dann auf Fragen eingegangen, und es können individuelle Belange besprochen werden. Kaffee und Kuchen gibt es übrigens natürlich auch. Also, wenn Sie kommen würden, Herr Dr. Peng, würden wir uns sehr freuen.« Während er das sagt, sehe ich ihn an, zupfe an einem Fingernagel und nicke langsam. Meine Augen prüfen, beurteilen, durchleuchten ihn und versuchen zu verbergen, dass sie ihn prüfen, beurteilen und durchleuchten.
Vielleicht ist er ja doch nicht so schlimm, wie Pater Cornelius es war, vielleicht werden die Menschen mit der Zeit tatsächlich immer besser, liberaler, einfühlsamer. Vielleicht gilt das auch für Kinder, für Fynns Mitinsassen. Aber ehrlich gesagt habe ich da meine Zweifel.
»Dürfen wir mit Ihnen rechnen?«
»Selbstverständlich komme ich, sehr gerne. Schön, dass Sie eine solche Veranstaltung organisieren.« Ich meine es ehrlich.
Ich bin zu diesem Dauerlächler mit den warmen Augen immer so besonders nett und freundlich, weil ich so sehr hoffe, dass er dann auch besonders nett und freundlich zu Fynn ist. Ich stecke ihm, nur mäßig vertuschend, die obligatorischen hundert Euro für die Kaffeekasse zu. Die Kaffeekasse seiner Frau oder die seines Freundes oder seines Schäferhundes. Das habe ich mittlerweile so oft getan, dass ich dazu begleitend garnichts mehr sage. So was wie »für die Belegschaft« oder »mit tausend Dank, Fynn gefällt es hier so gut! Danke«. Ich verabschiede mich – besonders nett und freundlich.
Höflichkeit hat viel mit Unterordnung zu tun. Fynn ist längst verschwunden. »Tschüss, Herr Weber.« Tür leise zuziehen. Ich fahre ganz langsam an, um nicht wie ein Angeber rüberzukommen. Ich meine, was verdient so ein Angestellter im Monat? Mein Wagen kostet wahrscheinlich mehr als vier seiner Jahresgehälter. Mein Anzug mehr als sein Monatsgehalt. Also setze ich ein noch untertänigeres Schleimgesicht auf, um zu kompensieren, was zu kompensieren ist.
Er winkt, ich winke, wir winken, ich winke, er winkt.
Erst einen Kilometer weiter kann
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