Paranoia
ja bis zu den Knien, wie sieht das denn aus.« Ich werde berechtigterweise ignoriert, und unter einem grün-weißen Notausgangschild, dessen rechte Hälfte nicht leuchtet, geht’s in die Lobby des Kinos.
Neben der Kasse wartet ein ganz junger, noch nicht ausgewachsener, angeleinter Husky auf sein Herrchen oder Frauchen. Sitzt da wie eine Porzellanfigur. Ich denke mir, Huskys sieht man auch nicht mehr so häufig. Sogar Tierrassen unterliegen einem Modetrend. Er ist ein wirklich süßes Kerlchen, ein Auge hellblau, das andere braun. Das Fell, weiß schwarzgescheckt, noch mit einer Spur Welpenflaum durchsetzt. Fynn entdeckt ihn sofort – ich merke, wie erfreut er gleich ist – und geht ganz langsam, leicht nach vorn gebeugt, auf das zutrauliche Tier zu und lässt es an seiner Hand schnuppern, bevor er ihm ganz vorsichtig über den Kopf streicht. Der Hund freut sich wie verrückt, stellt sich auf alle viere und wedelt mit dem Schwanz, und ich beobachte, wie zwei Halbwüchsige miteinander schmusen. Auf dem Brustgeschirr des ziemlich flauschigen Vierbeiners steht »Kampfhund«. Fynn dreht sich zu mir um und zeigt mit dem Finger drauf. Wir schmunzeln beide, nicken gleichzeitig, irgendwie bedächtig. Und beide schauen wir erstaunt auf, als ein großer, schlaksiger Punk (volles Klischee: Lederjacke mit Sicherheitsnadeln, zerrissene Spandex, ein Sex-Pistols-T-Shirt, das aussieht, als wäre es eines der ersten gewesen, die gedruckt worden sind, rote Irokesenbürste) aus der Herrentoilette gestapft kommt, den Hund losleint und Fynn kumpelhaft anlächelt. Ein Grinsen, das mich sofort für ihn einnimmt. Er sagt zu Fynn, in vertraulichem Ton: »Das ist Tsunami! Er ist Österreicher!« Ich muss schmunzeln, Fynn ist etwas überfordert von dieser skurrilen Information und bringt kein Wort heraus. An seinen Hund gerichtet, sagt der Punk: »Na komm, Tsunami, jetzt gehen wir!« Und dann gehen sie.
Fynn und ich schauen ihnen nach. Immer wenn ich versiffte Punks sehe, diese Nonkonformisten, die alle gleich aussehen, denke ich mir, wie kriegen die das auf die Reihe, durchs Leben zu kommen. Chaos und Leck-mich-Attitüde hin oder her, eines Minimums an Administration bedarf es in jedermanns Dasein. Rechnungen zahlen, Krankenversicherung, Girokonto. Die haben doch keine Aktenordner daheim, für ihre Dokumente und den ganzen Schriftverkehr. Oder doch?
Der Punk und sein Hund streifen vor dem Ausgang ein erzkonservativ wirkendes Ehepaar fortgeschrittenen Alters ingrauen Anoraks (E-Menschlein), die gerade aus einem anderen Kinosaal kommen. Und durch den Kontrast dieser beiden Zweierteams verändert sich die Soziologie im Raum dahingehend, dass beide Parteien die Ausstrahlung des jeweils anderen ins Unendliche verstärken. Es ist paradox, wenn man überlegt, dass die Spießer die Grundlage für das revolutionäre Gehabe des Punks bilden und somit der Punk der Erste wäre, der von seiner angestrebten Deinstalltion der Spießer eben genau
nicht
profitieren würde.
Tante und Onkel Reihenhäuschen raunzen: »Passen Sie doch auf!«, als sie beinahe mit dem Hund kollidieren, worauf sie es förmlich angelegt haben, sehen dem völlig cool bleibenden Anarcho hinterher und machen ein befremdetes Wie-krank-muss-man-sein-um-so-auszusehen-Gesicht. Da hätte ich was anzubieten: Warum fragen sich diese Durchschnittsmenschen das nicht mal zur Abwechslung beim – zum Beispiel – Anblick einer Frau in Ordensschwesternkutte? Wie krank muss man denn sein, um sich frömmelnd, lebenslänglich irgendwelchen Hirngespinsten des Übersinnlichen hinzugeben? Wie krank muss man sein, sich eine Soutane umzuhängen und in irgendeines Gottes Namen irgendeinen willkürlichen, transzendental-sakralen Scheißdreck daherzulabern, und das auch noch für unumstößlich zu verkaufen? An Idioten, die einen religiösen Führer brauchen, der ihnen sagt, wo’s langgeht. Wie krank muss man sein? Fragen sich diese dahergelaufenen, bürgerlichen Kreaturen so was jemals? So wie ich, jede Nacht?
Punk oder Pater? Ich weiß, was ich bevorzuge. Bei Gott.
Zur Hölle mit Gott.
Durchatmen. Geht schon wieder.
Fynn und ich ziehen unsere Schals und Mützen aus unseren Jackentaschen, und ich bemerke, wie Tante und Onkel sich ebenfalls zum Rausgehen ankleiden und dabei jetzt uns genauin Augenschein nehmen. Als wären wir beide eine Attraktion. Ein Rätsel. Ein Kuriosum. Sie verlassen das Kino vor uns.
Nachdem wir uns warm eingepackt haben und während ich Fynn die sensationell schwere
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