Paranoia
wir mitten in einem Hagelsturm abhoben, der den Rumpf schwanken machte.
Ich fülle meine Lungen mit der öligen Hallenluft. Inhaliere sie stoßweise. Weil mir schlecht ist. So schlecht. Der ganze Flugwar eine unruhige und holprige Angelegenheit. Und auch wenn ich seit einigen Minuten raus aus der Maschine bin, befinde ich mich gerade auf diesem markanten Höhepunkt der Übelkeit, von dem ich jedes Mal aufs Neue annehme: So schlecht war’s mir noch nie. Und vielleicht täuscht dieser Eindruck manchmal. Kann schon sein.
Aber jetzt? Also echt, so schlecht war’s mir noch nie.
Ich sehe mich gezwungen, mich uneingeschränkt beschissen zu fühlen. Das Gepäckförderband setzt sich in Bewegung. Natürlich in die andere Richtung als angenommen. Zielsicher habe ich mich mal wieder direkt neben die falsche Öffnung gestellt. In der Sache habe ich den Bogen raus. Jemand hinter mir lässt eine Kaugummiblase platzen. Ich erschrecke. Die ersten Koffer und Taschen rollen vorbei.
Ich postiere mich ungefähr auf mittlerer Höhe des Bandes. Denke an Esther, was sie wohl gerade macht. Die Bord-Crew mit ihren kleinen, identischen Rollköfferchen geht hinter mir vorbei. Von den Stewardessen ist keine über 25. Schätze ich. Je älter ich werde, desto weniger kann ich Alter einschätzen. Scheiße, ist mir schlecht. Nicht mal meine Flugangst kann sich dagegen durchsetzen. Ich stehe da wie ein kurzatmiger Ölgötze, der gleich zu hyperventilieren anfängt. Da kommt mein Koffer. Ich wuchte ihn vom Band und gleich wieder zurück aufs Band. Gehört doch nicht mir. Der Fünftletzte ist dann meiner.
Ich mache mich auf den Weg zur Passkontrolle, da ich den Flughafen wechseln muss, um meinen Anschlussflug zu bekommen. Eine Riesenschweinerei. Ich bin immer noch dabei, diese Nachricht zu verdauen. Habe ich vorhin erst erfahren.
Den Flughafen innerhalb Moskaus wechseln! Ist denn das zu fassen!
Das musste ich all die vierzehn Mal, die ich bislang in dieser Stadt zwischengelandet bin, noch nicht. Ich laufe gemächlichzum Check Out, während ich die Erinnerung Revue passieren lasse, wie ich vor drei Jahren oft durch diesen Terminal gewandert bin, auf meinen Anschlussflug nach Sankt Petersburg wartend, wo wir damals mit Lutz & Wendelen ein knapp vor der Insolvenz stehendes Logistikunternehmen sanierten, das einem Deutschen gehörte. Einem neureichen fränkischen Volltrottel, der ständig »Siehste« sagte und jeden duzte. Herbert Eberle. »Nur Herbert für dich.« Er trug eine goldene Krawattennadel in Form einer Mistgabel mit aufgespießter Bratwurst. Sein Maskottchen. Unser Lösungsansatz, um seine Firma zu retten, hat ihn ruiniert. Wir wandten unsere Standardleier an und dezimierten erst mal die Belegschaft. Weil Leute zu entlassen immer im Trend ist. Statt effizienterer Unternehmensabläufe und von uns prognostizierten Umsatzzuwächsen kollabierte das Unternehmen binnen kürzester Zeit. Denn wir bezogen nicht mit ein, dass wir mit der Personaleinsparung auch Angestellten den Laufpass gaben, die hochqualifiziert und vor allem hochmotiviert waren, sich für den Betrieb einzusetzen. Es blieben zu viele Billigkräfte übrig. Und die verfügten weder über das Fachwissen noch die Motivation zu persönlichem Einsatz, um effektive Arbeit zu leisten, da ihnen ihre befristeten Arbeitsverträge und niedrigen Sozialleistungen kaum Perspektiven zusicherten. Ohne qualifizierte und engagierte Manpower kann kein Betrieb langfristig überleben. Herberts Laden ging kein Jahr später pleite. Pech. Falscher Ansatz unsererseits. Nicht, dass uns so was zum ersten Mal passiert wäre. Unsere Erfolgsquote liegt im Durchschnitt unter dreißig Prozent. 30 zu 70.
Unsere
Quote und die von Unternehmensberatern allgemein. Und was? Wir bekamen unsere Beraterprämie. Und damit hatte es sich.
Ich atme mit aller mir zu Gebote stehenden Konzentration flach, sonst kotze ich. »For private purpose«, sage ich akzentuiert an der Passkontrolle und erspare mir damit einiges. Ichklinge, als hätte ich Polypen. Meine Erkältung ist in der grausamen Blütephase. Aber dafür erfreue ich mich an dem Gedanken, den ein oder anderen im Flieger angesteckt zu haben. Die Infizierungswahrscheinlichkeit über Klimasysteme liegt bei dreißig Prozent. 30 zu 70. Also in etwa vergleichbar mit der Erfolgsquote von Unternehmensberatern.
Ich werde durchgewinkt; von zwei Beamten mit Schirmmützen, die Homosexuelle auf Fetischpartys tragen. Passiere die Zollschleuse und laufe dabei über einen
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