Paranoia
klassischenHausdrachens. Sie ist die ultimative Entsprechung des post-post-post-feministischen Frauentyps. Eine Frau, die das klassische Rollenbild vor dessen 68er-Demontage nicht mehr augenzwinkernd karikiert, indem sie es kultiviert und bewusst konservativ auftritt. Nein. Sie meint das schon wieder ernst. Das ist der aktuelle Trend. (Spei.) Zurück zur Nudelholz-in-die-offene-Hand-klatschenden Parademutti. Wo-bist-du-so-lang-gewesen-na-warte-komm-du-mir-heim-mäßig. Viel Spaß. Wie Joel mir erst kürzlich anvertraute: Seit Geburt des Kindes ist Schicht im Schacht. Kein Zugang wird erteilt. Joel wichst zweimal am Tag. Ich einmal.
Der Peugeot vor mir hat endlich Platz gemacht, und ich fahre mit 240 an einem großen, reizlosen, düsteren Müllberg vorbei.
Und außerdem ließ Joel vorhin seinen Cappuccino zurückgehen, weil ihm der Schaum nicht schaumig genug war. Ich hasse diese Zurückgehenlasserei. Es sind solche Momente, in denen mir plötzlich wieder einfällt, dass ich Joel nicht ausstehen kann. Oder zumindest eine ganze Menge an ihm. In solchen Momenten merkt man, dass einen an jedem Menschen so vieles stört. Gerade bei nahestehenden Personen. Je mehr man über einen Menschen weiß, desto schlimmer wird er. Wenn ich so recht darüber nachdenke, merke ich, wie sehr er mich regelrecht anwidert. Und ich darf das sagen. Ich bin sein bester Freund. Ihm wird’s nicht recht viel anders gehen. In so manchen Augenblicken würden wir wohl beide freimütig zugeben, dass wir uns nicht im Geringsten leiden können. Und doch haben wir gleichzeitig einvernehmlich beschlossen, uns bis auf Weiteres zu ertragen. Wir entscheiden von Mal zu Mal. Seit zehn Jahren. So ist das eben. Man muss einen Menschen nicht mögen, um mit ihm ein wohlgesinntes Verhältnis einzugehen.
Für zwanzig Sekunden bleibe ich durchgehend auf der Hupe. Noch so ein Trödler. Will nicht weichen. Partout nicht.Gibt’s doch nicht. Macht keine Anstalten. Haben die nichts zu tun, jetzt hau schon ab. Ja, fahr halt zur Seite, fahr zu, jetzt hebt er doch glatt seinen Arm, ich sehe sein motzendes Maul in seinem Seitenspiegel. Seine Frau macht auf dem Beifahrersitz ebenfalls Gezeter. Was seinen Gesten viel von ihrer Wirkung nimmt. Er hat die Schweizer Autobahnvignette Sichtfeld einschränkend an der Windschutzscheibe auf der Fahrerseite angebracht. Das passt zu dir! Beweis A: Du seien doof. Jetzt fahr nach rechts, du! Mann, ist das ein Scheißtag heute.
Ich würde nur Joel und Ben als echte Freunde bezeichnen, und ich verwende große Sorgfalt darauf, dass die beiden einander nicht mehr als flüchtig kennen. Jeder hat schließlich seine eigene, ganz individuelle zwischenmenschliche Funktion für mich. Zufällig handelt es sich bei beiden um Jungs aus stinkreichen Familien. Meine Freundschaft mit ihnen erscheint mir wie ein einziges Experiment zur Erforschung meiner eigenen Grenzen. Ihre Nähe gibt mir eigentlich nur zu verstehen, was sie mich vergessen lassen sollen. Ihre Freundschaft erinnert mich dauernd daran, was ich nicht bin, was ich nicht habe, was ich nie sein werde, woher ich nicht komme. Sie macht mir bewusst, dass ich nicht weiß, wohin ich gehöre, und dass ich wahrscheinlich nirgendwohin gehöre.
Das macht unsere Verbindung zu einer selbstauferlegten Dauerherausforderung, die mich auf Trab hält. Außenseiter versus Goldener Löffel. An der Uni habe ich mich bewusst an sie gehalten, weil ich wusste, der Umgang mit den richtigen Leuten wird für meine Zukunft entscheidend sein. Und auch wenn ich großes Geschick entwickelt habe, auf ihrem gesellschaftlichen Parkett zu tanzen, habe ich stets das Gefühl, eine angelernte Fähigkeit zu praktizieren, die ihnen von Natur aus zufiel. So gut es mir auch gelingt, sie auszutricksen, ich werde niemals die Angst verlieren, als Betrüger und Eindringling inihre Kreise entlarvt zu werden. Wenn ich so darüber nachdenke, sind sich beide eigentlich ziemlich ähnlich. Daher ist es sowieso gut, dass sie sich nicht näher kennen. Viele glauben ja, das Zusammenführen ihrer eigenen Freunde wäre sinnvoll, weil sie von der irrtümlichen Annahme ausgehen, Menschen mit ähnlichen Eigenschaften oder Interessen würden automatisch zueinander passen. »Du musst ihn kennenlernen, ihr habt so viel gemeinsam! Du wirst ihn mögen!« Meist ist das Gegenteil der Fall.
So ist’s brav, so geht’s doch auch. Der VW vor mir macht schön Platz, räumt die linke Spur, weil er mich heranrasen sieht. Ich rausche an ihm vorbei.
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