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Paranoia

Paranoia

Titel: Paranoia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Felder
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Zeit. Wenn sie nachdenken, lügen sie, diese kleinen Würmer. Und mehrfach überführe ich ihn durch analytische Schlussfolgerungen der Unwahrheiten, von denen er meint, sie seien geschickt und zu seinem Vorteil. Lügen liegt einfach in der Natur des Menschen. Ich werfe es niemandem vor.
    »Was genau machen Sie wann? Weshalb decken Sie diesen, Ihr Kollege aber nur jenen Bereich ab? Folgt dieser Ablauf denn wirklich einer streng logischen Plausibilität? Was hielten Sie von folgender Art der Zusammenlegung? Ist es denn wirklich der Knackpunkt, wenn Sie Ihre Ergebnisse dorthin leiten?« Ich und mein Besserwisser-Repertoire eben. Anschließend frage ich wieder ein wenig nach diesem und jenem, um das Eis zu brechen und ein bisschen genaueren Einblick in sein Arbeits- und Privatleben zu bekommen. Das ist ungeheuer wichtig. Der Gesamteindruck, den eine Belegschaft vermittelt, hilft mir, die richtigen Entscheidungen zu treffen und die richtigen Kandidaten zu eliminieren. Außerdem finde ich ein paar private Details immer amüsant, und es lockert diese eintönige Arbeit auf.
    Nach zwanzig Minuten lasse ich von ihm ab. Das war’s. Ich weiß genug. Ich gebe ihm mit jovialer Geste meine Hand und klopfe ihm aufmunternd auf die Schulter. Er ist extrem eingeschüchtert. Keine Sorge, alles wird gut. Die Ungewissheit nagtan ihm. Seine Augen blitzen, die Flügel seiner Adlernase ziehen sich zusammen und weiten sich wieder, in ihm begehrt etwas auf. Vielleicht wünscht er sich ja gerade die goldenen Zeiten zurück, in denen alles besser war, noch nicht verwestlicht. Vielleicht schlägt er gerade in seinem Köpfchen unter S wie Sozialismus nach und sehnt sich heimlich nach dieser institutionalisierten, lächerlichen Utopie von der Leugnung menschlicher Leistungsbezogenheit. Aber ob mit oder ohne kapitalistische Triebfeder, ein Russe ist ganz schnell wieder bei W wie Wodka. Russland wird immer gleich bleiben, egal, unter welcher Regierungsform. All die soziokulturellen und wirtschaftlichen Verrenkungen werden vergeblich sein. Die russische Volksseele ist die eines korrupten Nichtsnutzes. Oder Ivan? Habe ich doch recht! Sagen doch sogar eure eigenen Dichter und Denker. Vor allem die.
    Er streicht sich mit der Hand übers Gesicht. Die reinste Karikatur eines Pechvogels. Er sieht mich immer noch verängstigt an, versucht an meinem Gesicht abzulesen, was ich vorhabe. Herauszufinden, was ich denke und tun werde, ist seit meiner Ankunft die Hauptbeschäftigung der gesamten Belegschaft. Ich bin wohl momentan der meistgehasste Mensch im Gebäude. Der Aufräumer und Durchputzer. Besser, ich achte auf meine Rückendeckung.
    Im Stehen, schon an der Zimmertür lächle ich höflich. Ivan der Schreckliche fühlt sich daher zu der Vermutung berechtigt, noch etwas sagen zu dürfen, und fängt plötzlich einfach so zu reden an. Wohlgemerkt unaufgefordert! Unaufgefordert! Mit frömmelndem Blick, als würde er sich in einem tobenden Ozean am letzten Strohhalm festzuhalten versuchen, bevor ihn die gigantische Flutwelle wegreißt. Einen auf persönlich machen, mitleidheischender Augenausdruck, plumper Überlebenskampf. Er labert, er schüttelt den Kopf – der Kopf schüttelt ihn. Ich glaube, man kann sich’s vorstellen. Ich, in derparadoxen Rolle des Henkers und des Beichtvaters. Russen haben so was schwülstig Pathetisches, wenn sie um ihr Leben flehen. Oder ihren Job. Zu viel Tamtam. Seine Brillengläser sind leicht von Tränendampf beschlagen. Das hier ist das vielleicht tausendste Gespräch dieser Art, das ich in meinem Leben führe. Sollte er doch im Stande sein, sich das zusammenzureimen. Sollte er sich doch denken können, dass ich seine überschwängliche Anbiederung als Zumutung empfinde. Sollte er doch ahnen, dass mein Lächeln nichts weiter als eine hinauskomplimentierende Gebärde ist. Er ist nicht besonders helle im Kopf, das ist mir gleich aufgefallen. Jedes Wort zu viel. Ich koche.
    Ivan Blöd plappert weiter, rechnet mir sein sowieso schon so niedriges Gehalt vor, faselt etwas von Nähe am Existenzminimum und stellt es in Vergleich zu westlichen Gehältern. Tölpelhafte Taktik, eine unverblümte Milchmädchenrechnung noch dazu. Will der mich für blöd verkaufen? Ich weiß Umrechnungswert und Kaufkraft sehr wohl zu unterscheiden. Ich nicke verständnisvoll. Es kommt mir für einen Moment fast so vor, als würde groteskerweise
er mir
gut zureden. Macht die Sache auch nicht gerade besser, als er was von seinen drei Töchtern zu erzählen

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