Paranoia
Weg zum Flughafenhotel. Durch den Zentralbereich und weiter über ein Tunnelsystem. Wir folgen diesem sowjetischen Staatsdiener durch einen schleusenähnlichen Gang mit breiten Deckenlampen, die im Abstand von einem Meter schwaches Licht absondern. Ich starre auf seinen links von der Kopfmitte sitzenden Haarwirbel und die daran abstehenden Haare. Alle zwei Schritte ändert er seinen Helligkeitston. Licht, Schatten, Licht, Schatten, Licht, Schatten.
Was das Leck in der Bordwand der Maschine verursachthaben könnte, sei noch nicht geklärt, beantwortet er meine Frage, ohne sich umzudrehen. Strenggenommen beantwortet er sie damit ja eigentlich nicht.
Als Ben und ich unser Hotel lebend betreten, ist es fast 2 Uhr 55. Unser Begleiter flüstert dem Portier etwas zu und verabschiedet sich dann. Unser Gepäck bekommen wir voraussichtlich morgen zurück. Muss noch überprüft werden. Na toll. Na immerhin. Ich stehe an der Rezeption, sehe raus in den Regen und fühle mich wie ein Fremder in einem fremden Land. Nicht ganz unberechtigt, aber mehr als nötig.
Weitere fünf Passagiere betreten die Hotel-Lobby. Sie sehen genauso lädiert wie Ben und ich aus. Und ihr Begleiter ähnelt dem unsrigen verblüffend. Typ Bestattungsunternehmer, diskret, ernst, offiziell.
Ben und ich füllen einen Anmeldezettel aus. Dafür benötige ich meinen Ausweis. Er steckt prompt in der Jackentasche, in der ich als Letztes nachsehe. Ich schreibe, wie unter Punkt 7 von mir verlangt, mühsam meine Passnummer ab. Passnummer abschreiben, meine liebste Übung. Bei der neunten Ziffer verschreibe ich mich, streiche durch, schreibe drüber, ein Gefrickel – können die das nicht übernehmen? Vier Sterne! Ich gäbe jetzt schon höchstens zwei. Einmal mehr in meinem Leben unterzeichne ich den Wisch und schiebe ihn zusammen mit dem Kugelschreiber weg von mir, hin zu dem Portier (D/E-Mensch). Er muss etwa in meinem Alter sein. Seine Schneidezähne lösen sich schnalzend von den Lippen, als er mir die Schlüsselkarte aushändigt. Nr. 231. Werd’s mir merken.
Ben hat 234. Ist leichter zu merken, aber ebenso leicht mit 123 zu verwechseln.
Der segelohrige Page läuft uns voraus wie eine Lenkrakete. In dem Etagenflur riecht es nach Desinfektionsmittel, einem von der Sorte, von der man den Eindruck hat, es werde eingesetzt,um einen anderen Geruch zu überdecken. Auf meinem Zimmer drücke ich dem Koffer-Boy zehn Euro in die Hand. Er wünscht mir in russisch gefärbtem Englisch alles Gute und viel Spaß, mit so einem komischen anzüglichen Grinsen, das ich sicher falsch interpretiere. Er kann doch wohl sehen, dass wir völlig verdreckt und fertig sind und gerade einem Flugzeug entstiegen sind, das im Begriff war abzustürzen. Er trottet zur Tür, Ben sieht noch mal in meinem Zimmer umher, geht dem Pagen hinterher und sagt: »Bis gleich«, bevor er durch die Tür und auf sein Zimmer verschwindet.
Wie! Bis gleich! Er will doch wohl nicht noch drüber reden, sich aussprechen, sich austauschen, einfach reden? Ich gebe mir einen Ruck und lächle. »Ja, bis gleich.« Er ist raus. Ich schließe die Tür hinter ihm ab und bin durchdrungen von einer wilden Verzweiflung, die ich, wenn auch nur andeutungsweise, zum Ausdruck bringe, indem ich mir eine Flasche Bier aus dem kleinen Kühlschrank der Zimmerbar nehme.
Auf dem Bett liegen in Cellophan verpackte Hemden, Hosen, Unterwäsche und ein Beutel mit Pflegeutensilien. Die Fluggesellschaft hat das aber ziemlich schnell organisiert. Haben wohl Übung.
Ich wähle natürlich die Seite des Doppelbetts, die zur Wand steht. Werfe mich auf die Matratze und breche in Tränen aus. Sie fließen kurz, befreiend und voller Wehmut. Paranoia.
Und wenn schon.
Ist gleich vorbei.
Vermutlich wird es immer erst schlimmer, bevor es besser wird.
Ich schalte den Fernseher an. Keine Chance auf Konzentration. Es ist, wie ins Leere starren.
Ich brauche meine Tabletten. Ich brauche jemanden, der mich wieder in Ordnung bringt. Ich brauche meine Kontrolle wieder.
Vor unseren Türen werden Bodyguards postiert, hat man uns an der Rezeption gesagt. Das begreife ich nicht. Nachsehen, ob wirklich jemand da steht, möchte ich nicht. Ändert nichts. Bin auch zu erschöpft. Bodyguards? Zu unserer Sicherheit oder damit wir nicht abhauen? Sind wir Verdächtige?
Vielleicht sollte ich doch gucken, ob jemand auf Posten steht. Interessehalber. Ach nein. Ich wende meinen Blick von der Tür ab, neben der ein roter Rettungsplan genietet ist, mit
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