Paranoia
bleibt wenige Meter vor mir stehen, wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dabei hinterlässt er einen Rußstreifen oder Ölfilm auf seiner Haut. Wir bekommen ein Zeichen. Eine auffordernde Kopfbewegung von einem armen Würstchen in einer Uniform, die nach Heilsarmee aussieht. Ist wohl der Einsatzleiter.
Ich spüre etwas in den Knien knacken, als ich aufstehe.Das habe ich schon seit ein paar Jahren. Knackt nur, nichts sonst.
Der Einsatzleiter reicht uns weiter. Wie die Schulkinder werden wir aus der Maschine geführt, von zwei Typen in nassen, dunkelgrünen Regenmänteln. Man bedeutet uns, mitten im Gang, noch mal kurz stehen zu bleiben. Ich ahne, alles Protestieren würde nichts nützen. Aber ich stoße einen verärgerten Seufzer aus. Ben hält sein silbernes Gehäuse lieblos in der Hand. Wie erwartet, ist der Laptop dahin. Unsere Boss-Anzüge auch.
Weiter geht’s. Wir stapfen durch die Kabine, steigen über einzelne, verstreut herumliegende Hindernisse und treten in die eisige Nachtluft. Der Wind treibt mir Tränen in die Augen. Er ist kalt, aber ich friere nicht.
Auf dem Asphalt spiegeln sich Richtscheinwerfer. Tristes Grau. Es nieselt und nieselt. Beständig. Die Tropfen riechen nach Kerosin. Ich mache ein paar Halslockerungsübungen. Mir ist danach.
Strahlen von Taschenlampen huschen hier und da herum. Ein Feuerwehrwagen fliegt fast in unsere Richtung. Irgendwo brüllen ein paar Leute, und mit plötzlichem Zischen tritt Dampf aus einem Ventil eines der Löschfahrzeuge. Der Boden im Umkreis von ein paar Quadratmetern verschwindet darunter. Die dunstige Fläche wirkt wie die Kulisse für ein achtziger Jahre Musikvideo, das dank des großzügigen Einsatzes einer Nebelmaschine erst so richtig atmosphärisch rüberkommt. Bevor ich die Gangway hinabsteige, betrachte ich die zig Rettungswagen, die mit blinkendem Blaulicht um unser Flugzeug herumstehen, während das Heulen der Sirenen, irgendwelcher Sirenen, anhält. Eine Unzahl anderer Geräusche strömt auf mich ein. Ich hinke etwas, mein rechter Fuß ist leicht lädiert. Wie aus dem Nichts zieht ein Pulk schwerbewaffneter Soldaten an uns vorbei. Maschinengewehre geschultert. LächerlicherLaufschritt, befremdlich. Einer der trabenden Soldaten stolpert, kurz bevor der Tross um eine Ecke verschwindet. Ich gestatte mir lediglich ein verlegenes Grinsen. Vorsicht ist geboten.
Wir werden direkt über den Flugplatz in ein gläsernes Gate geführt, das auf die Schnelle zu einem provisorischen Erstversorgungslager umfunktioniert wurde. Schwarzer, glänzender Steinboden.
Ben und ich bleiben am Eingang stehen und sehen uns um. Bilanz: zahlreiche Verletzte und, wie ich dem Herrn vom Personal entnehme, der mit gebrochenem Englisch in sein Walkie-Talkie redet, zwei Tote. Angaben ohne Gewähr. Mit den vielen Ärzten, Feuerwehrleuten und Sanitätern, die die Passagiere versorgen, macht es fast den Anschein, als sei die Zahl der Opfer um rund die Hälfte geringer als die der Helfer.
Viele Passagiere sind hysterisch vor Glücksgefühl, zappeln herum und umarmen einander wie die Blöden. Tränen, Gelächter, Nicken und Schweigen, Starren und Schwafeln, Mitteilungszwang, Sentimentalitätsattacken, Neugeburt, Erfahrungsaustausch, emotionale Situationsschilderung, feierliche Gelöbnisse. Von der Versicherung, dass einem nichts – gar nichts – passiert ist, bis zum Wettstreit darum, wem es schlechter geht. Diese extremen Gefühlswandel kotzen mich wahnsinnig an. Sich erst in die Hosen scheißen und dann feuchte Augen bekommen, weil das eigene Leben ganz knapp verschont geblieben ist. Lottogewinn, Weihnachten und Ostern zusammen – die Tour, schon klar. Sinneswandel extrem. Ganz entfernt erinnert mich das an patzige Bedienungen, die einen, wenn’s zum Abkassieren kommt, ganz plötzlich scheißfreundlich anlächeln und mit Engelsstimme den Preis ansagen. Von einem ins andere.
Ich schwanke ja auch zwischen Geistesabwesenheit und Raserei, überwältigender Erstarrung und Amok. (Auf jeden Fallmuss ich mich unter den Armen waschen.) Aber ich halte meinen Mund. Das Wichtigste. Das Mindeste, was ein zivilisierter Mensch aufzubringen im Stande sein sollte. Sorgfältig darauf achten, was man tut.
Zur Verlagerung der schwarzen Panik in meiner Magengrube beobachte ich alles um mich herum. Widme mich dem förmlich. Einer zum Beispiel, acht Meter Luftlinie entfernt, ein hellhäutiger Inder mit gelber Ausstrahlung und schreckgeweiteten Augen (D), stottert zum Gotterbarmen. Und
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