Paranoia
Unterarme auf die Tischplatte.
»Wir müssen reden«, sagt er, mehr ratlos als fordernd. Ahoi. Mein Lieblingssatz in letzter Zeit. Er fixiert mich und fährt mit seiner Zeigefingerkuppe über den Rand des Glases vor ihm, das für Orangensaft vorgesehen ist. Die Seele sitzt ihm in der Pupille. »Das, was du da gestern …«
In dem Moment – ich wusste doch, wir werden beobachtet – steht aus dem Nichts neben uns ein C-Mann Ende dreißig, Anfang vierzig, in schlecht sitzendem, mittelprächtigem Anzug, der gern kostspielig aussähe. Flankiert von zwei uniformierten Beamten.
»Herr Peng? Herr Kerschenbaum?«, fragt er diskret und sieht uns nacheinander an. Leichte Gänsehaut. Seine Augen, dynamisch und wach, strafen sein graumeliertes Haar Lügen. Ich stelle fest, dass ich diesen Typen problemlos hassen kann. Sage, frage vielmehr »Ja?« und spähe dabei über Bens Schultern, ob irgendwo noch mehr Beamte zu sehen sind. Die Situation hat etwas latent Bedrohliches. Mit einem vorgeblich liebenswürdigen Blick wendet er sich mir zu, sagt »Herr Peng, bitte sehr« und reicht mir meine Schlüsselkarte. »Die haben Sie auf ihrem Zimmer liegen lassen!«
Wie nett. Eine Unverschämtheit! Ich nehme das Plastikrechteck und tue mein Bestes, sein gummiartiges Lächeln zu erwidern. Nicht ohne ein irritiertes Zittern in der Stimme bedanke ich mich, etwas zaghaft ironisch.
Er fährt fort: »Es tut mir leid, Sie stören zu müssen, aber wir hätten noch einige Fragen zu dem gestrigen Vorfall. Würden Sie uns bitte folgen?« Während er spricht, zückt er einen Ausweis. Dem einen prüfenden Blick zuzuwerfen schenke ich mir. Was kann man auf Ausweisen schon erkennen oder daraus schließen, was einem mit Sicherheit etwas mitteilt?
Ich atme ein, wappne mich. Irgendwas stimmt hier nicht. Ich spüre, dass es nicht nur um ein paar Formalitäten geht, hoffe es aber. Schweiß benetzt meine Handflächen. Ich würde mich gern noch mit Ben absprechen, nicht, dass ich wüsste, was es abzusprechen gäbe, aber ich fühle mich überrollt.
»Wäre es möglich, damit noch eine halbe Stunde zu warten? Herr Kerschenbaum kam noch gar nicht dazu, etwas zu essen, er stieß eben erst zu mir«, sage ich, als ob die drei das nicht wüssten. Ich sehe ihren Anführer an, ihn und seinen zu dicken Krawattenknoten. Er erwidert meinen Blick, ohne mich aufzuschrecken oder zu beruhigen.
»Es tut mir leid, meine Herren, aber ich muss Sie wirklich bitten, uns unverzüglich zu begleiten.« Ohne mit der Wimper zu zucken. Herren spricht er als
Chiärren
aus.
Ich rutsche unbehaglich hin und her. Ben sieht mich an und wir nicken. Also dann. Wir erheben uns und brechen unseren synchronen Aufstehvorgang auf halbem Weg ab, bleiben wie erstarrt in den Knien stehen, als uns der Typ nämlich plötzlich eine einfach gefaltete russische Zeitung hinhält. Warum gerade jetzt, wo wir seiner Aufforderung bereits Folge leisten? Wohl aus Übereifer.
Auf der oberen Hälfte der Titelseite prangt das Foto einer Tupolew. Die kenn ich. Immer noch halb stehend, halb sitzend,mit rundem Rücken, stütze ich mich auf den Armlehnen ab. Er klappt die Zeitung ganz auf, und ich sehe darunter ein großes Farbbild. Wirklich groß. Er tippt mit seinem Zeigefinger darauf, sieht mich durchdringend an und nickt dabei.
Ich starre auf das Motiv, sehe ihn, Ben, an, vergesse zu atmen, meine Kehle wird zur Dürrezone, schaue wieder auf das Foto.
Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet.
37
Ein enger Raum. Es ist ein winziges, in einem unmöglichen Grauton gestrichenes Büro mit einem kleinen Fenster, durch das man auf einen baufälligen Hangar sieht. Der Gegenentwurf zum Frühstücksraum. Draußen schneit es inzwischen.
»Setzen Sie sich, bitte«, sagt Herr Preobrashenski, wie er sich mittlerweile vorgestellt hat, und lässt seine Stimme möglichst schmierig klingen. Aus zwei langen Rissen im Stoffbezug des Drehsessels quillt Schaumstoff hervor wie Eiter. Ich nehme Platz.
Er fragt: »Wie fühlen Sie sich?«
»Danke«, antworte ich und versuche, nicht aufmüpfig zu erscheinen. Immerhin verschaffte man sich Zugang zu meinem Zimmer und ließ es mich wissen, indem man mir meine darin vergessene Schlüsselkarte überreichte. Mein Handy wurde mir eben abgenommen, und Ben wurde in einen anderen Raum gebracht, um uns getrennt voneinander zu verhören.
Herr P ist sehr klein, wie mir jetzt erst auffällt. Das macht mir etwas Angst. Er ist klein genug, um jeden auch nur geringfügig größeren Menschen
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