Paravion
wie die Gänsehaut eines jungen Mädchens. Weinend betrachtete er ihn, küßte die lila Tinte mit seinen dunkelvioletten Lippen; und bei jedem Blatt, das er eines nach dem anderen in die Hände nahm, weinte er noch lauter.
»Gib doch acht«, warnte ihn Mamurra. »Sonst fließen noch alle Worte weg.«
Die Menschen drängten sich neugierig vor dem Haus, sie linsten unter der Tür durch, ein Mann wollte gar mit Hilfe des Weinstocks, den er unter seinen Babuschen zerdrückte, aufs Dach klettern, doch als er dort auf ein Chamäleon traf, fiel er vor Schreck herunter.
Baba Baluk trat aus der Tür, und die Menge stob in alle Himmelsrichtungen davon. Er bestieg den Esel und ritt Richtung Stadt, wo er jemanden zu finden hoffte, der ihm den Brief vorläse. Doch war ihm auf einmal so, als könnte er die Worte des Vaters auf den Lippen schmecken, und so hielt er auf halbem Weg inne und kehrte, indem er den Esel anspornte, seinen Zuckeltrab zu beschleunigen, nach Hause zurück.
Vielleicht lag es daran, daß er von der Tinte gekostet hatte, oder aber daran, daß er in den unbegreiflichen Worten, die er betrachtet hatte, seines Vaters Stimme zu hören glaubte, jedenfalls stellte er fest, daß er wußte, was in dem Brief stand.
Die Tinte floß in seinen Adern. Die Worte waren ihm ins Herz gebrannt.
Er trabte mit dem Esel geradewegs ins Haus, und noch bevor sich seine Frau vom Schrecken erholen und ihn zurechtweisen konnte – sie hatte gerade den Boden gewischt –, senkte er die Lider und sprach gebieterisch: »Hör zu!«
Der Inhalt des Briefes sprudelte ihm aus dem Mund. Seine Frau begann vor Freude zu schluchzen.
»Warum hast du mir nie gesagt, daß du lesen kannst?«
»Das kann ich auch nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß. Er wußte sogar, wie die Adresse auf dem Umschlag lautete, und wie der Name des Landes, in dem sein Vater sich niedergelassen hatte: Paravion. Das stand auf der großen, rechteckigen Briefmarke. Weiß auf Blau: Die Farben von Paravion.
In dieser Nacht schlief sie ein zur Melodie der väterlichen Worte, die er unzählige Male wiederholte. Das Paar hütete den Brief wie einen Augapfel.
Der Umschlag überlebte viele Jahre, dann zerfiel er allmählich zu Flaum, der im Sonnenlicht tanzte. Das Papier wurde gröber, bekam Knicke und andere Altersgebrechen, die Tinte blutete aus und löste sich auf in Staub, welcher dem Umschlagflaum im Lichtstrahl fröhlich hinterherhüpfte. Doch der Inhalt blieb auf den Lippen und im Herzen Baba Baluks und auch Mamurras, die die Worte während der Hausarbeit vor sich hinmurmelte, wie andere Frauen summten oder sangen.
Ja, später würde sie sie sogar laut singen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme. Als sie ein Kind war, so erzählten es ihr Cheira und Heira, habe sich eine Nachtigall auf ihre Lippen gesetzt. Und ihre stets roten Backen seien zwei glückliche Rotkehlchen gewesen. Sie hätten sie unter einem Baum gefunden, ein Findelkind, eine Tochter des Mondes.
Baba Baluk mußte abreisen. Der Mangel wurde immer bedrängender. Die Preise für Gemüse, vor allem für Tomaten und Kartoffeln, erreichten spektakuläre Höhen, und nichts, vor allem das Wetter nicht, gab zur Vermutung Anlaß, daß sich das in absehbarer Zeit ändern könnte. In Paravion dagegen erwarteten ihn fruchtbare und arbeitsreiche Zeiten. Und wenn er wiederkäme, würde er seine Frau mit Kleidern und Kleinoden überhäufen. Erblühen und erglühen würde sie vor lauter Gold wie ein Zitronenbaum.
Baba Baluk und Mamurra waren bei den Dorfbewohnern nie beliebt gewesen. Sie begegneten ihnen mit Mißtrauen. Vor der Frau hatten sie Angst wegen ihrer unbekannten Herkunft und ihrer ätherischen Erscheinung; oh, dieses Wunder an weißer Haut, die gegen die Dolche ihrer Blicke immun zu sein schien.
Doch vor allem fürchteten sie sie, weil sie zu Cheira und Heira gehörte, die sie für Hexen hielten, obwohl sie von deren Kräutern und Amuletten gern Gebrauch machten, wenn finstere Krankheiten und Leiden sie heimsuchten. Sie glaubten, daß Mamurra die Tochter eines Dämons sei. Für Baba Baluk aber hatten sie nur unverhohlene Verachtung übrig, und sie nannten ihn einen Sklaven. Wäre er nicht mit Mamurra verheiratet gewesen, hätten sie ihn längst aus dem Dorf gejagt.
Diese Verachtung und dieser Neid waren, wie so oft, mit Neugier gepaart. Und so versammelten sie sich, nachdem Baba Baluk den Brief erhalten und sie sich umsonst schleicherisch bemüht hatten, etwas vom Inhalt in Erfahrung zu bringen, unter
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