Paris im 20. Jahrhundert
kam Wagnerbe …«
In diesem Augenblick ließ Quinsonnas seine Finger, die der Rhythmus nicht mehr zügeln konnte, in die unverständlichen Träumereien der Kontemplativen Musik abschweifen, schritt mit abrupten Intervallen vorwärts und verlor sich schließlich inmitten seiner endlosen Phrase.
Der Künstler hatte mit unvergleichlichem Talent die sukzessiven Entwicklungsstufen der Kunst dargeboten; zweihundert Jahre Musik waren soeben unter seinen Fingern dahingeglitten, und seine Freunde lauschten stumm und gebannt.
Plötzlich, mitten in einem tosenden Hirngespinst des Wagnerianismus, in jenem Augenblick, in dem das irregeleitete Denken unwiederbringlich den Halt verlor, in dem die Töne allmählich Geräuschen wichen, deren musikalischer Wert nicht mehr erkennbar ist, da begann etwas Einfaches, Melodisches, von lieblichem Wesen und vollkommenem Gefühl unter den Händen des Pianisten zu erklingen. Das war die Ruhe, die auf den Sturm folgt, die Sprache des Herzens nach all diesem Geheul und Gewinsel.
»Ah!« rief Jacques aus.
»Liebe Freunde«, antwortete Quinsonnas, »es hat noch einen großen, unbekannten Künstler gegeben, der tief in sich den Genius der Musik besaß. Dies stammt aus dem Jahre 1947 und ist der letzte Seufzer der erlöschenden Kunst.«
»Und das ist?« fragte Michel.
»Das ist von deinem Vater, der mein über alles bewunderter Lehrmeister war!«
»Mein Vater!« rief der junge Mann und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen.
»Ja. Hör zu.«
Und Quinsonnas brachte Melodien hervor, unter die ein Beethoven oder ein Weber ihre Unterschrift gesetzt hätten, stieg bis in die erhabensten Höhen der Interpretation empor.
»Mein Vater!« wiederholte Michel.
»Ja!« antwortete Quinsonnas und schlug sein Klavier wutentbrannt zu. »Nach ihm, nichts! Wer würde ihn heute noch verstehen. Schluß, meine Söhne, Schluß mit dieser Rückkehr in die Vergangenheit! Laßt uns an die Gegenwart denken, und der Industrialismus möge wieder herrschen!«
Während er dies sagte, berührte er das Instrument, dessen Klaviatur herunterklappte und ein perfekt gemachtes Bett und einen Waschtisch mit seinen verschiedenen Utensilien zum Vorschein kommen ließ.
»Das also«, sagte er, »war unser Zeitalter würdig zu erfinden! Einen Klavier-Bett-Kommoden-Waschtisch!«
»Mit Nachtkästchen«, sagte Jacques.
»Genau, mein Lieber. Einfach vollkommen!«
Neuntes Kapitel
Ein Besuch bei Onkel Huguenin
Seit diesem denkwürdigen Abend verband die drei jungen Leute eine enge Freundschaft; sie bildeten in der riesigen Hauptstadt Frankreichs eine kleine Welt für sich.
Michel verbrachte seine Tage am Großen Hauptbuch, er schien sich in sein Schicksal gefügt zu haben, doch um glücklich zu sein, fehlte ihm die Möglichkeit, Onkel Huguenin zu sehen; mit ihm hätte er sich im Herzen einer richtigen Familie gefühlt, denn er hätte ihn zum Vater und seine beiden Freunde zu älteren Brüdern gehabt. Er schrieb dem alten Bibliothekar oft, und dieser antwortete ihm, so gut er konnte.
Auf diese Weise verstrichen vier Monate; in der Verwaltung schien man mit Michel zufrieden; sein Cousin verachtete ihn ein bißchen weniger; Quinsonnas lobte ihn über alles. Offenbar hatte der junge Mann seinen Weg gefunden. Er war ein geborener Diktierer.
Der Winter ging so recht und schlecht vorüber, denn die Gasheizungen und -kamine kümmerten sich darum, ihn erfolgreich zu bekämpfen.
Der Frühling kam. Michel erhielt einen ganzen freien Tag, einen Sonntag; er beschloß, ihn Onkel Huguenin zu widmen.
Morgens um acht verließ er frohgelaunt das Bankhaus, glücklich darüber, weit vom Geschäftszentrum entfernt ein wenig mehr Sauerstoff atmen zu können. Das Wetter war freundlich. Der Monat April brach herein und bereitete seine frischen Blumen vor, mit denen die Blumenhändler zu ihrem Vorteil den Kampf aufnahmen; Michel spürte, wie er auflebte.
Der Onkel wohnte weit weg; er hatte seine Penaten dahin verlegen müssen, wo es nicht allzu teuer kam, eine Behausung für sie zu finden.
Der junge Dufrénoy begab sich zur Station Madeleine, kaufte eine Fahrkarte und schwang sich auf eine obere Plattform; das Abfahrtssignal ertönte; der Zug fuhr den Boulevard Malesherbes hinauf, ließ bald darauf die schwerfällige Kirche Saint-Augustin zu seiner Rechten und den von prachtvollen Bauwerken umgebenen Park Monceau zu seiner Linken zurück; er kreuzte das erste, dann das zweite innerstädtische Eisenbahnnetz und hielt an der Station Porte
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