Partitur des Todes
Marthaler das Kind hin und her. Dann begann er Gefallen daran zu finden. Und plötzlich überraschte er sich dabei, wie er leise ein altes Wiegenlied summte.
«Eine Frage habe ich noch», sagte Marthaler, als Hotschi wieder ins Zimmer kam. «Haben Sie eigentlich wenigstens einen Führerschein?»
Der junge Vietnamese schaute den Polizisten geradewegs an. Statt zu antworten, setzte er ein Lächeln auf, das so breit war, wie es sein schmales Gesicht nur zuließ.
Hinter der Rezeption des Nizza stand eine schwarze Frau mit kurzgeschnittenen Haaren. Während er mit ihr sprach, starrte Marthaler unentwegt auf die dunkelrot geschminkten
Lippen der Frau, die mit ihrer braunen Haut auf eine Weise harmonierten, dass ihm unwillkürlich das altmodische Wort «Anmut» einfiel.
«Ich suche nach einem Gast von Ihnen, nach einer Frau, die vorgestern am späterenAbend hier eingecheckt hat.»
«Wer fragt?»
«Entschuldigung», sagte Marthaler. Er zeigte seine Marke und stellte sich vor.
«Wenn Sie jetzt noch so freundlich wären, mir den Namen der Frau zu sagen.»
«Den hoffe ich, von Ihnen zu erfahren.»
«Das heißt, Sie suchen jemanden, wissen aber nicht, wen Sie suchen?»
«Das kommt in unserem Beruf leider ziemlich häufig vor», erwiderte Marthaler.
«Vorgestern hatte ich keinen Dienst.Aber ich kann nachschauen.»
«Ich bitte darum.»
Sie bückte sich, zog einen schmalen Ordner hervor und legte ihn auf den Tresen. Dann begann sie zu blättern. Marthaler sah, dass sie an jedem Finger der rechten Hand einen Ring trug.
«Ist die Frau alleine oder in Begleitung gekommen?»
«Nein, alleine.»
«Dann ist es die, die wir vermissen», sagte die Rezeptionistin.
Sie drehte den Ordner um, sodass Marthaler das Anmeldeformular lesen konnte.
Valerie Rochard
11, Place d’Aligre
75001Paris
France
Journaliste
14.1.1978
Für einen Augenblick war Marthaler so überrascht, dass er die Rezeptionistin mit einem glücklichen Lächeln anschaute.
«Die Frau hatte für zwei Nächte gebucht, ist aber nur einmal hier aufgetaucht. Sie hat ihre Tasche in ihr Zimmer gebracht, hat den Schlüssel wieder abgegeben und ist dann sofort verschwunden. Seitdem hat sie niemand mehr gesehen.»
«Und was ist mit ihrem Zimmer, kann ich es sehen?»
«Warten Sie… Zimmer 25, nein, das ist schlecht. Wir haben es vor einer Stunde neu belegt. Wir mussten es nicht einmal reinigen.»
«Trotzdem werden wir uns dort einmal umschauen müssen. Was haben Sie mit ihrer Tasche gemacht?»
«Die haben wir natürlich aufbewahrt. Wir hoffen, dass die Dame wieder auftaucht. Schließlich hat sie ihr Zimmer noch nicht bezahlt.»
«Die Tasche muss ich beschlagnahmen», sagte Marthaler. «Holen Sie sie, bitte. Hat Valerie Rochard das Zimmer erst hier gemietet oder hat sie von Paris aus gebucht?»
Die Rezeptionistin zeigte ihre weißen Zähne: «Erst Tasche holen? Oder erst nachgucken?»
«Egal», sagte Marthaler und schaute der Frau nach, die in einem der hinteren Räume verschwand. Dann wählte er die Nummer von Kerstin Henschel.
«Kerstin, ich bin imHotel Nizza.Der Knoten ist geplatzt. Wir haben die Französin… Nein, nicht sie selbst, aber ihren Namen und ihreAdresse. Schreib bitte mit… Ja. Sie ist Journalistin, siebenundzwanzig Jahre alt. Ruft die Kollegen in Paris an. Seht zu, ob ihr irgendwas über Valerie Rochard in Erfahrung bringen könnt. Warte einen Augenblick…»
Die Rezeptionistin hatte die Reisetasche auf den Tresen gestellt. Sie blätterte erneut in dem Ordner, dann reichte sie Marthaler einenZettel. Es war der Ausdruck einer E-Mail.
«Kerstin, hör zu. Sie hat das Zimmer nicht selbst bestellt. Die Buchung hat der Fernsehsender arte vorgenommen. Wahrscheinlich ihrArbeitgeber. Fragt dort nach, was Valerie Rochard in Frankfurt wollte. Versucht, so schnell wie möglich ein Foto von ihr zu bekommen. Und schreibt die Frau sofort zur Fahndung aus.»
Einundzwanzig
Um 14.27Uhrverließ Oliver Frantisek den fast pünktlichen ICE und betrat Bahnsteig 4 des Kölner Hauptbahnhofs. Er reihte sich in den Strom der Reisenden ein, fuhr mit der Rolltreppe hinunter in die Passage und ging in Richtung des Hauptausgangs. In einem der Presseläden kaufte er eine Zeitung und stellte fest, dass es die Morde in Frankfurt auch auf die Titelseiten der Kölner Lokalblätter gebracht hatten.
Als er den Bahnhofsvorplatz betrat, zog Frantisek sein Jackett aus und setzte seine Sonnenbrille auf. Der Himmel war blau. Vor ihm gingen zwei Mädchen in kurzen Röcken
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