Partitur des Todes
verbrennen.»
«Dann ist es eben so», sagte Frantisek. «Wenn das der Fall ist, will ich Ihnen wenigstens vorher noch die Hand geben.»
Zweiundzwanzig
Die Eingangstür des Nizza schloss sich hinter seinem Rücken, und Marthalers Laune hatte sich deutlich gebessert. Er trug Valerie Rochards Reisetasche und schlenderte die Elbestraße entlang, ohne auf die Junkies und Cracker zu achten, die rechts und links in den Hauseingängen hockten. Er ignorierte den Schmutz auf den Bürgersteigen und die verschmierten Scheiben der billigen Kneipen.
Vor demRistorante Pescara aufder Kaiserstraße blieb erstehen. Hier hatte er einmal mit Thea Hollmann zuAbend gegessen.Anschließend waren sie zu ihrnach Hause gegangen. Es war der jungen Gerichtsmedizinerin an diesem Tag nicht gut gegangen. Sie hatte ihm erzählt, dass sie manchmal durch die Stadt laufe und das Gefühlhabe, nicht mehr dazuzugehören.
So wares Marthaler in den letzten Wochen gegangen. Oft war ihm die Melodie des Liedes von Gustav Mahler eingefallen, die dieser zu einem Gedicht Friedrich Rückerts geschrieben hatte: «Ich bin der Welt abhanden gekommen.» Das war Marthalers Gefühl gewesen. Er hatte nicht mehr dazugehört. Die Stadt und ihre Bewohner waren ihm fremd geworden; er war aus der Welt gefallen.
Als er sich jetzt umschaute, fühlte er sich seiner Umgebung wieder näher. Die alteVertrautheit kehrte langsam zurück. Es war,wie es war. Es gab die schmutzigen und die schönen Seiten, und er war ein Teil davon. Dass die Ermittlungen imNizza zu einem Erfolg geführt hatten, ermutigte ihn. Man musste vielarbeiten, aber dieArbeit war nicht vergeblich. Man konnte etwas tun.
Im Kaisersack schaute er zwei Jugendlichen zu, die mit ihren Skateboards trainierten. Ihre weiten Hosen saßen tief auf den Hüften. Wenn ihnen eine Übung gelungen war, lachten sie und schlugen ihre Handflächen aneinander. Und manchmal warfen sie einen raschen Blick in Richtung des Schnellrestaurants, vor dessen Eingang ein paar Mädchen standen, die so taten, als bemerkten sie die Jungen nicht.
Sie spielen immer noch dasselbe Spiel, dachte Marthaler.Irgendwann sitzen sie auf den Bänken, um sich zuküssen. Sie flüsternsichLiebesschwüre ins Ohr und träumen sich die Zukunft ziemlich wolkenlos. Wie in den anderen alten Liedern, die es ja ebenfalls gab und die man auch dann noch singen würde, womöglich zu einer neuen Melodie.
Er durchquerte die B-Ebene des Hauptbahnhofs, ließ sich amAutomaten eine Fahrkarte ausdrucken, fuhr mit der Rolltreppe ein weiteres Stockwerk hinab und stieg in die U-Bahn.Als eine freundlicheAutomatenstimme die Station «Römer» ansagte, sprang erauf. Er hatteAppetit auf ein Eis. Obwohl er wie in jedem Frühsommer versuchte, ein wenig abzunehmen, hatte er das Gefühl, sich eine Belohnung verdient zu haben.
Am Römerberg kam er ins Freie.Überall saßen Leute auf den Bänken und genossen das gute Wetter. Vor dem Justitia-Brunnen standen wie immer Gruppen von Asiaten, die sich unentwegt gegenseitig fotografierten. Und auf den Treppenstufen des Römer hielten sich eine Braut und ein Bräutigam bei den Händen, hatten die Köpfe in den Nacken gelegt und streckten ihre jungen Gesichter der Sonne entgegen.
Vor einem der Eiscafés auf dem Paulsplatz suchte Marthaler nach einem freien Tisch im Schatten. Er blätterte die Karte durch und merkte, dass er am liebsten alles bestellt hätte. Er war unentschlossen. Obwohler sonst am liebsten Spaghetti-Eis aß, entschied er sich heute für einenAmarena-Becher, um schließlich, als die Kellnerin endlich nach seinen Wünschen fragte, ein Tartufo und einen doppelten Espresso macchiato zu verlangen. Wie immer verzehrte er sein Eis viel zu schnell. Kurz war er in Versuchung, eine weitere Portion zu bestellen, rief aber stattdessen nach der Rechnung. Er wunderte sich über die Preise, zahlte jedoch ohne zu murren und gab ein viel zu hohes Trinkgeld.
Als Marthaler aufstand, klingelte sein Telefon. Er ging ein paar Meter weiter in Richtung Paulskirche, wo das Gedränge der Passanten weniger dicht war. Ganz in der Nähe hatte eine Limonadenfirma ihren Werbestand aufgebaut.Aus zwei kleinen Lautsprechern kam Musik. Eine Frau im roten Overall verteilte Schildkappen und Fähnchen an die Kinder.
«Ich bin’s», sagte Tereza.
Marthaler merkte, wie sein Herz einen Sprung machte. Noch vor zehn Minuten hatte er selbst überlegt, sie anzurufen, hatte sich aber nicht getraut, da er fürchtete, sie bei ihrer Arbeit zu
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