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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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alle Gewissheit. Ich weiß nicht, was ich eigentlich erwartet oder erhoffthatte. Diese Begrüßung allerdings machte mich unglücklich und ratlos. Wieso tat sie so, als sei die Welt noch dieselbe wie vor sechs Wochen? Wieso deutete sie noch nicht einmal an, dass die Welt aus den Fugen geraten war?
    Claras »Wie geht’s?« war die beste Vorbereitung auf das neue Schuljahr, die ich hätte bekommen können. Niemand von meinen Mitschülerinnen und Mitschülern sprach mit mir über das, was geschehen war. Indem alle Welt schwieg, zwang man mir eine Normalität auf, die nicht mehr die meine war. Ich reagierte auf meine Art. Ich wurde auf eine Weise aufmüpfig, die die anderen Kinder erschreckte. Ich wehrte mich gegen die kleinsten Ungerechtigkeiten der Lehrer. Ich war eigenwillig und zornig. Und eines Tages warf ich den teuren Alu-Aktenkoffer meines Mitschülers Klaus aus dem zweiten Stock des Schulgebäudes nach unten auf den Hof. Meine Eltern kauften Klaus einen neuen Aktenkoffer und schenkten ihm einen Tennisschläger.
    Ich verstehe bis heute nicht, warum es keine wirklichen Konsequenzen oder echten Trost für mich gab. Den Tennisschläger empfand ich als eine Art Bestechung, damit man nicht schlecht über uns dachte. Die einzige Zuwendung, die ich erhielt, war ein Verweis. Und immer noch sprach niemand mit mir.
    Das tat dann – wesentlich später – endlich Michael, ein Mitschüler. Einer der nettesten. Eines Tages nahm er mich beiseite und sagte: »Julia, du musst aufhören, dich so zu benehmen. Wir mögen dich so nicht. Und wenn du nicht damit aufhörst, wollen wir dich auch nicht mehr als Klassensprecherin.«
    Mir war klar, dass die Klassenkameraden lange darüber nachgedacht hatten, wer mir die Botschaft überbringen sollte. Und ich erinnere mich an meine Verzweiflung. Aber auch daran, dass ich trotz der tiefen Kränkung, die Michaels Worte für mich bedeuteten, gelöst und froh war. Endlichhatte mal jemand etwas zu mir gesagt, hatte mich jemand ernst genommen. Endlich wurde mir das Gefühl vermittelt, dass es mich überhaupt noch gab. Ich meine, dass ich nach dieser Kritik mein Verhalten wieder anpassen und ich mich in der Klasse ein wenig entspannen konnte.
    Auch keiner der Erwachsenen, weder meine Lehrerinnen und Lehrer oder unsere Direktorin noch Mütter meiner Schulfreunde, sprach mit mir über die Tat meiner Schwester und die Folgen für mich. Beruhigende Worte, sanfte Umarmungen, milde Anteilnahme hätte ich benötigt. Menschen hätten mich in den Arm nehmen und sagen sollen: »Hey, Julia, ich weiß, was geschehen ist, und ich weiß, dass man darüber kaum sprechen kann. Aber ich will dir sagen, dass ich nachvollziehen kann, wie schlimm es sein muss, wenn die geliebte Schwester auf einmal weg ist, und noch dazu im Zusammenhang mit einer so grauenhaften Tat.«
    Aufgeschrieben mag es albern klingen und kitschig. Aber solche oder andere Worte hätte ich gebraucht wie die Luft zum Atmen. Ich verödete in dem bruchlosen Schweigen um mich herum, das ja ein beredtes Schweigen war. Ein Schweigen, das immer schon wusste. 
    Alle, auch Menschen, die ich nicht kannte, wussten, was passiert war, und wussten, dass ich die Schwester von Susanne war. Mein Vater war relativ bekannt in Hamburg. So bekannt zumindest, dass die Zuordnung aus den Fakten, die die Zeitungen preisgaben, eindeutig war. Susanne war die Tochter meiner Eltern, und ich war die dazugehörige Schwester. In den Elbvororten, wo wir lebten, gab es niemanden, der nicht jemanden kannte, der jemanden kannte und mit dem Finger in die richtige, in unsere Richtung zeigen konnte.
    An meiner Schule und in meinem sozialen Umfeld wusste es jede und jeder. Tragische Ereignisse sind das schönste Gesprächsthema. Und dieses Ereignis hatte eine Wucht, die alle um uns erfasste. Es war eine Geschichte zum Weitererzählen, eine Tragik zum Anteilhaben, ein Grauen, über das man nur hinter vorgehaltener Hand flüsterte. Ich glaube, Verlegenheit war eines meiner Grundgefühle dieser Jahre.
    Wenn ich auf dem Schulhof anderen Schülern begegnete, verstummte das Gespräch. Es gab perfide Situationen: Vor der Turnhalle stand eine Gruppe älterer Schülerinnen, die ich nicht kannte. Sie sprachen mich an, versuchten, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie fragten mich scheinheilig, ob ich Geschwister hätte. Die Frage nach meiner Schwester, die sie nicht stellten, dröhnte in meinen Ohren. Ich wollte nur weg und musste mich doch

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