Patentöchter
konzentrieren, um nicht in die Falle zu tappen, die sie ausgelegt hatten. Was war die Falle? Dass ich über meine Schwester sprechen sollte. Dass ich über das, was geschehen war, Auskunft erteilen sollte. Das Perfide war, dass sie so taten, als hätten sie mich zufällig kennengelernt und zufällig Interesse an mir gefunden. Ich floh mit einer Ausrede.
Meine Freundin Elisabeth – sie war am Abend der Tat mit uns essen gewesen – hat mich einmal, vielleicht war es 1979 oder 1980, zu schützen versucht, als wir mit anderen Jugendlichen zusammensaßen. Wir waren in England auf einer Sprachreise. Die Gruppe hatte beschlossen, reihum die Reisepässe vorzuzeigen. Wir kannten einander nur beim Vornamen, und außer Elisabeth wusste niemand, wer ich war. Ich erstarrte, doch ich wusste keinen Ausweg und zeigte schließlich meinen Pass vor. Es passierte, was passieren musste. Schon der Zweite in der Runde sagte lachend: »Ah, dann bist du wohl die Schwester von Susanne Albrecht.« Das Gefühl des inneren Ausgelöschtseins ist schwer zu fassen, schwer zu erinnern und schwer zu beschreiben. Ich glaube, ich flüchtete auf die Toilette. Und ich meine, dass Elisabeth die Situation irgendwie im Griff hatte, als ich wiederkam, und es schaffte, mich wieder zu integrieren, unddass sie später auf dem Nachhauseweg zur Gastfamilie mit mir über den Vorfall sprach.
Susanne war allgegenwärtig. Stets war sie schon vor mir da. Überall in der Stadt, an jedem Bahnhof, an jeder Post, an Schaufenstern von Banken und an Litfaßsäulen hing sie. Alleine im Großformat oder spielkartengroß in der linken oberen Ecke der DIN – A 3-großen Plakate. Ich glaube, die Fahndungsplakate sind eine Kollektiverinnerung. Jeder, der 1977 bei Verstand war, hat seine Geschichten damit. Doch für uns war es natürlich etwas anderes. Wir Kinder begegneten unserer Schwester, meine Eltern ihrer Tochter. Die Plakate brachten mich in eine widersprüchliche Situation: Ich wollte mich ihnen unbedingt nähern, wollte Susanne von Nahem sehen, mit ihr sprechen. Wollte ihre Haare streicheln und ihr Mut zuflüstern. Gleichzeitig fürchtete ich mich vor den Plakaten wie vor dem Leibhaftigen. Obwohl sie überall hing, konnte ich ihr nie nahe sein, weil ich nie alleine mit ihr war.
Das Fahndungsplakat, das mich am meisten quälte, war jenes an der Litfaßsäule in der Waitzstraße. Die Waitzstraße ist die einzige Einkaufsstraße in Hamburg-Othmarschen. Langsam fließen die Autos hindurch auf der Suche nach einem Parkplatz, und auf halber Strecke, am Eingang zur S-Bahn, auf einer Art Platz, wo man sein Fahrrad abstellen kann, steht diese Litfaßsäule. Hier, wo wir uns nach der Schule oder am Nachmittag trafen, hier, wo jede und jeder fast täglich vorbeiging wie an der Kirche auf dem Dorf, hier hing meine Schwester. Gleich nach den großen Ferien hatte ich sie dort entdeckt, und sie blieb dort jahrelang hängen. Auch wenn das Plakat sich änderte. Es gab verschiedene Ausführungen der Fahndungsplakate, manchmal wurde es mit einer neuen Version überklebt. Immer aber war meine Schwester oben links. So war sie leicht zu finden. Oben links. Eines Tages allerdings gab es eine einschneidende Veränderung: Ausdem großen Fahndungsplakat wurde ein Einzelplakat. Wo vorher viele vereint aus einem Poster blickten, klebte nun ein DIN – A 4-großes Plakat, auf dem nur noch meine Schwester abgebildet war. Nun gab es wirklich kein Entrinnen mehr.
Ich hasste diese Litfaßsäule, und eines Tages kam ich nach Hause, ich denke, es waren unterdessen ein paar Jahre vergangen, und kündigte meiner Mutter an, ich würde das verdammte Ding in der Nacht abfackeln. Dabei hatte ich gar nichts Konkretes vor, ich wollte mich nur endlich von dem Albdruck befreien. Meine arme Mutter wusste mit meiner Ankündigung nicht umzugehen, sie reagierte verstört. Sie glaubte wohl, dass da eine zweite Terroristin heranwuchs. Nichts lag mir ferner. Aber ich wünschte, sie oder meine anderen Geschwister hätten mich unterstützt und mit mir das grauenhafte Plakat von der Litfaßsäule entfernt. Das hätte mir ein bisschen inneren Frieden gegeben. Aber meine Geschwister waren weit weg, lebten ihr eigenes Leben und wussten von mir so gut wie nichts.
Viele Jahre später erst, da war ich schon fast erwachsen, führte jemand aus unserer Familie die entscheidende Änderung ein. Er begann, Susanne zu grüßen, wenn er an einem Plakat vorbeiging, und ich denke, wir alle übernahmen dieses neue Ritual. Wenn
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