Patentöchter
Schauspieler und einen Handelskaufmann, dessen Geschäftswege stetig nach Südamerika führten. Ecuador und das Spanische waren die zweite Heimat meiner Großeltern väterlicherseits.
Meine Urgroßeltern mütterlicherseits hießen von Hülsen und von Moltke. Offiziere, Majore, Feldmarschälle – viele militärische Laufbahnen prägen den Stammbaum. Meine Urgroßmutter war die Lieblingsnichte des kinderlosen Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke, der von KaiserWilhelm I. für seinen Sieg in der Schlacht von Königgrätz 1866 ein Geldgeschenk bekam, mit dem er das schlesische Gut Kreisau erwarb. Dort wurde meine Mutter 1929 geboren. Ein späterer Erbe und Verwalter des Gutes, ein Onkel meiner Mutter, Helmuth James von Moltke, war dort während der Nazidiktatur mehrfach Gastgeber für Gesprächskreise von Widerstandsdenkern. Sie wurden der Kreisauer Kreis genannt. Auch brachte er Flugblätter der Weißen Rose, der Münchener Widerstandsgruppe um die Geschwister Scholl, nach England. Für sein Denken, das damals schon von einem europäischen Geist geprägt war, wurde er nach langer Inhaftierung gegen Kriegsende in Berlin vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Seit 1945 ist Kreisau ein polnischer Ort und heute ein Zentrum für europäische Begegnung und Verständigung. In Plötzensee, dem früheren Strafgefängnis, wo mein Großonkel hingerichtet wurde, wird heute des deutschen Widerstands gedacht.
Wenn ich auf einer Stadtrundfahrt mit dem Bus durch die Hauptstadt fahre, wird rechter Hand auf das imposante General-Moltke-Denkmal am Großen Stern bei der Siegessäule gedeutet; buche ich eine Bootstour auf der Spree, weist mich der Lautsprecher auf die aus Buntsandstein errichtete Moltkebrücke hin. Man spürt, dass sie eines der wenigen Baudenkmäler ist, die von den Kriegsbomben nicht getroffen wurden; das macht auch ihre Schönheit aus. Beide Denkmäler haben einen stolzen Platz im Herzen Berlins. Meine eigene familiäre Landkarte hat also vielfältige europäische Verbindungslinien, die bis heute geschichtliche Entwicklungen berühren.
Mein Vater wuchs behütet in Alsternähe in Hamburg auf, mit Ölbildern von südamerikanischen Berggipfeln über der Sitzgruppe in der guten Stube und im elterlichen Schlafzimmer. Meiner Mutter unbeschwertes Aufwachsen in Berlindirekt am Charlottenburger Schloss und auf den geselligen Landgütern der Großeltern in Schlesien nahm bei einem der ersten schweren Bombenangriffe auf Berlin im November 1943 ein jähes Ende. Im Alter von 14 Jahren verlor sie beide Eltern. Zu den Großeltern in den Osten führte kein Weg mehr. Die Geschwister flohen an der Hand der anderen Großmutter in den Norden, und sie machte sich mit einer Cousine auf in Richtung Schleswig-Holstein.
Zu der Zeit war mein Vater nach einem halben Jahr Kriegseinsatz mit einer schweren Kopfverwundung schon aus dem Kessel von Woronesch entkommen – an einer ganz ähnlichen Verletzung sollte er in einem anderen »Krieg« dreieinhalb Jahrzehnte später sterben. Nach einem längeren Lazarettaufenthalt in Dresden und einer begonnenen Studienzeit in Göttingen kehrte er wieder nach Hamburg zurück.
Dort begegneten sich Mitte der Vierzigerjahre unsere Väter und entwickelten eine Freundschaft. Es war eine Jugend- und Studienfreundschaft, die nach Kriegsende im noch von Bombenangriffen gezeichneten Hamburg an der Universität begann. Beide waren sie Studenten der Rechtswissenschaften. Sie teilten die gleichen Studieninteressen wie auch die vertraute Nähe desselben Wohnviertels. Und sie teilten auch die Erfahrung des in sehr jungen Jahren überlebten Krieges. Neben Jura studierte mein Vater noch Germanistik und Philosophie. Gewiss lud die Nähe zur Alster die Freunde an Wochenenden zu fröhlichen gemeinsamen Ruderausflügen ein.
Ich stelle mir vor, wie die Freunde die Köpfe über Büchern in Pöseldorf zusammensteckten, dumme Witze in meinem Großelternhaus in der Magdalenenstraße rissen, sich über gemeinsame literarische und juristische Interessen austauschten und vermutlich nebenbei auch regelmäßig Texte verfassten, in denen sie ihren Lebensalltag einzufangen versuchten. Von meinem Vater zumindest weiß ich, dass erkeine Gelegenheit ausließ, selbst gestaltete ironisch-humorvolle Mehrzeiler bei einem geselligen Zusammensein zu präsentieren. Das war gewissermaßen Tradition und erwarteter Höhepunkt bei allen Festen.
Aus alten Koffern quellen heute noch manche dieser in zartlila Schreibmaschinenfarbe auf dünn
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