Patentöchter
ich nun auf ein Plakat stieß, sagte ich: »Hallo, Schwesterchen!«, und irgendwie war damit der Bann zum Teil gebrochen.
In meiner Schule kam ich jeden Morgen und jeden Nachmittag an der Pförtnerloge vorbei, einem kleinen Kasten mit einer Glasfront. Unten links hing ein DIN – A 3-Plakat, auf dem – ähnlich wie auf den Fahndungsplakaten aufgeteilt in viele kleine Quadrate – verschiedene Blumen abgebildet waren. Jeden Tag, über viele Jahre, bekam ich einen Schreck, wenn ich das verdammte Blumenbestimmungsplakat sah. Ich dachte mir Tricks aus. Vor allem nachmittags, auf dem Nachhauseweg, versuchte ich mich rechtzeitig an das Posterzu erinnern. Ich sagte mir: Gleich kommt das Plakat, keine Angst, es sind nur Pflanzen darauf abgebildet, keine Terroristen. Aber ich erschrak. Immer.
Vom Beginn der achten bis zum Abschluss der 13. Klasse waren es sechs Jahre. Sechs Jahre Hamburg, sechs Jahre als Schwester der Schwester. Das war das Prägendste dieser Jahre, die permanente und lückenlose Identifikation als Schwester. Und das ungebrochene Schweigen in Bezug auf das alles überschattende Ereignis. Das lähmte mich bis zur Bewegungslosigkeit.
Als ich vielleicht 14 oder 15 Jahre alt war, hatte ich Sorge, dass ich nie wieder würde lächeln, geschweige denn lachen können. Wenn ich versuchte, ein freundliches Gesicht zu machen, fühlte es sich an, als wären meine Gesichtszüge vereist. Ich fürchtete, nie mehr glücklich sein zu können.
Das Glück versteckte sich hinter meinen Freundinnen und Freunden, lief weg, wenn ich irgendwo hinkam. Außerdem hatte ich Angst. Ich hatte Angst, selbst Opfer eines Anschlags zu werden, Angst im Dunkeln, Angst, alleine zu sein, Angst, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, Angst, dass meinen Eltern etwas zustoßen könnte. Während meine Mitschüler sich aufs Erwachsenwerden vorbereiteten, blieb ich irgendwie stehen.
Meine Kinder- und Jugendfreundschaften waren beendet, als ich nach dem Abitur aus Hamburg wegging, um in Berlin zu studieren. Neben Elisabeth gibt es nur noch eine andere Freundin, mit der ich heute noch befreundet bin. Elisabeth hatte dafür gesorgt, dass der Brief ihrer Eltern an meine Eltern, den wir wenige Tage nach der Tat erhielten, auch an mich gerichtet war, und ihn mit unterschrieben. Sie war die Erste, die das Thema später angesprochen hat.
Das jahrelange Schweigen hatte zu tiefe Verletzungen hinterlassen. Es mangelte an gemeinsamen Erinnerungen und gemeinsam Erlebtem mit den Freunden. Wo für sie ein Erlebnis im Zentrum stand, war es für mich das Gefühl, nicht dazuzugehören, weil die Veränderungen, die mein Leben durch die Tat meiner Schwester am 30. Juli 1977 erfahren hatte, nie integriert waren. Wenn wir gemeinsam segelten, fühlte ich mich nicht dazugehörig, weil ich meine Schwester immer im Schlepptau mit dabeihatte. Noch schlimmer waren Partys. Meine Freundinnen und Freunde tanzten, schienen entspannt und fröhlich. Ich konnte nicht verstehen, warum die anderen so fröhlich waren. Ich fand es albern und zugleich beneidenswert. Und wünschte, so empfinden zu können.
Die Töchter von Ulrike Meinhof gingen auf ein benachbartes Gymnasium. Manchmal kreuzten sich unsere Wege. Ich erinnere mich, dass ich mir vorstellte, dass sie mich ansprechen könnten. Dass wir doch eine irgendwie vergleichbare Geschichte hatten. Dass sich mit ihnen das Schweigen vielleicht durchbrechen ließe. Dabei hätte ich mich nie getraut, den ersten Schritt zu tun. Bis ich Hamburg mit 19 verließ, war es mir fast immer unmöglich, über die Tat oder meine Schwester zu sprechen.
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Ponto am Markt
Corinna Ponto
Ponto am Markt, so hieß das Wäsche- und Kurzwarengeschäft meiner Urgroßeltern väterlicherseits in Lübeck. Die Pontos waren eine alteingesessene Lübecker Familie – ursprünglich allerdings zugewandert aus Südeuropa. Die Lübecker gingen nicht nur zum Kaufen von Weißwäsche und Knöpfen in den Laden unter den Handelsarkaden, sondern auch für den täglichen Schnack, denn Zeitung wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur vom Herrn im Hause gelesen. »Tut mich leid«, entschuldigte sich mein Urgroßvater Ludwig, wenn ein Wäscheartikel nicht vorrätig war. Es war ein stadtbekannter Lübecker Ausspruch zu der Zeit.
Ida und Ludwig hatten vier Söhne. Einer verstarb früh, in den Lebenswegen der anderen drei zeigte sich die ausgeprägte Sehnsucht nach Süden und Ungezwungenheit – es gab einen Maler, Violinisten und Weltenbummler, einen
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