Patentöchter
Verbindung im schnellen, vielfältigen Lebensrhythmus.
Die Entführung von Hanns Martin Schleyer, die Selbstmorde von Baader, Raspe und Ensslin in Stammheim, die dramatischen Stunden der Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut« und die Befreiung der Geiseln in Mogadischu hielten diesen Geschichtenfluss schlagartig an – ein STOP im neuen Leben. Ein übergroßer Schatten legte sich auf die gerade wieder errungenen Tageskräfte und ließ erneut die körperlichen und seelischen Lähmungssymptome siegen. Zwei Wochen lang gingen wir nur für das Nötigste aus dem Haus. Die Tage verlangsamten sich, weil wir gedankenschwer und gefühlstaub nur darauf warteten, was als Nächstes passieren würde.
Was ist da eigentlich in Deutschland los?, fragten uns die Amerikaner, die gerade zum ersten Mal ein gutes Bild von Deutschland und seinem demokratischen Weg gewonnen hatten. Erstmals empfanden sie die Bundesrepublik als gefestigten Rechtsstaat, als eine Demokratie, die gerade begann, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.
Plötzlich war sie da, eine politische Angst, die ich zum ersten Mal in meinem Leben verspürte. Die lebendige Stadt, der traumhaft farbig-schöne Herbst in New York waren eingehüllt, verpackt wie von Christo, in ein mächtiges, dunkles Schwarz.
Ein paar Wochen später, an einem kaltblau-klaren amerikanischen Novembertag, geschah Folgendes – wieder eine Zäsur:
Meine Mutter lebte außerhalb der Stadt in einem von freier Wiese umsäumten Cottage-Haus. Postalisch gemeldet warsie bei einem Bekannten in New York. Eines Morgens rief im Büro der Dresdner Bank in der Wall Street ein Mann mit dunkler Orgelstimme an: »Watch out the address of Mrs Ponto – we know where she lives!« Nur diese wenigen Worte fielen.
Sofort wurde unser Bekannter in seiner Wohnung am Central Park von einer Beamtin des FBI und einem deutschen Rechtsanwalt aufgesucht, um zu diskutieren, wie man die Sicherheit meiner Mutter gewährleisten könne. Sie selbst war bei diesem »Sicherheitsgespräch« nicht anwesend. Das FBI wurde zunächst beauftragt, für mehrere Monate auf die Wohnung dieses Bekannten aufzupassen.
Für ihn, der nun frühmorgens und abends an Bewachern vorbeiging, die eigentlich gar nicht wussten, wonach sie Ausschau halten sollten, bedeutete dies, sich plötzlich in einem neuen, beklemmenden Alltag und in einer fremden Geschichte zu befinden.
Für meine Mutter einen weiteren Umzug.
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»Weil alle am gleichen
Ereignis hängen«
Julia Albrecht
Meine Eltern haben an der Beerdigung von Jürgen Ponto nicht teilgenommen. Natürlich nicht. Nach ihrem Besuch bei Ignes Ponto in Oberursel am Tag nach der Tat, nach den Umarmungen, die es dort noch gab, nach dem Versuch, sich gegenseitig Trost zu spenden, fuhren meine Eltern wieder nach Hamburg zurück. Selbst wenn sie zur Trauerfeier eingeladen gewesen wären, wären sie nicht hingegangen. Wer hätte auch vermitteln können, dass die Eltern einer der Mittäterinnen am Grab um den Toten geweint hätten.
Nach der Tat haben Ignes Ponto und mein Vater noch für eine kurze Zeit miteinander korrespondiert. Soweit ich weiß, besteht dieser Briefwechsel aus insgesamt vier Briefen, zwei von Ignes, die mir meine Mutter gegeben hat, und zwei von meinem Vater, die ich nicht kenne.
Die beiden Briefe von Ignes sind auf gelb-beigem New Yorker Hotelpapier verfasst. Der erste Brief datiert vom 9. September 1977.
Lieber Chrischi!
Es war so gut, einen Brief von Dir zu erhalten, und er hat mir gezeigt, wie gut es auch war, dass wir uns gleich gesehen haben nach diesem unfassbaren Geschehen. Ich habe in allen Dingen vom ersten Augenblick an, und tue es auch jetzt so, gehandelt, wie Jürgen es getan hätte – und wie ich fühle, dass er uns weiter leitet in allem. Diese Schüsse konnten ihn nicht töten, und wenn ich ihn auch sterbend in meinen Armen hielt: Er ist nicht tot, er lebt, er entscheidet weiter. Deutschland erlebt einen aller menschlichen Würde entbehrenden Krieg, aber es wird auch wieder herausgeführt werden aus dieser Dunkelheit. Dass Susanne ein Werkzeug in diesem Krieg ist, [ist] so grausam für Euch – Jürgens gute und jahrelange Freunde. Welch eine Tragik! Ich leide mit Euch und für alles, was noch geschehen wird. Die Verwirrung und Hilflosigkeit bricht sich Bahn. Die Zeichen dafür spüre ich seit 10 bis 15 Jahren. Nur warum »Ihr« und »wir«? Was hat Susanne Euch und den Geschwistern (der süßen Julia) angetan! Lasst von Euch hören. Ich bete für
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