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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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quer durch West-, Süd-, Nord- und Osteuropa markierten Orte miteinander verband, eine unendlich verschlungene Linie, die mir aber, obgleich sie so wirr und bewegungsvoll war, immer als eine Gerade vorkam.

    Liebe Corinna,
    ich glaube nicht, dass an der Geschichte Deiner Bekannten etwas dran ist. So kurz nach der Tat und angesichts des damit zusammenhängenden Fahndungsaufgebots halte ich es für unwahrscheinlich, dass so viele Mitglieder der »Gruppe« das Risiko auf sich nahmen, Deutschland auf dem Luftweg, also nicht über eine grüne Grenze, erst zu verlassen und dann wieder zurückzukehren. Zumal zu dieser Zeit die Vorbereitungen für die Entführung von Hanns Martin Schleyer auf Hochtouren liefen. Die in Stammheim inhaftierten RAF – Mitglieder machten großen Druck. Sie wollten freigepresst werden. Die Ereignisse, die dann folgten, machen deutlich, wie enorm die Anspannung war: die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten, die Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut« und der Freitod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe.
    Nach dem Mord an Deinem Vater herrschte trotz Pannen, trotz Ungenauigkeiten ein solcher Fahndungsdruck, dass es mir schwerfällt, mir vorzustellen, dass ein Großteil der Gruppe in die Sonne flog.
    Ich weiß, zwar nicht aus eigener Anschauung, aber aus vielen Berichten, wie viele Falschmeldungen es damals gab und wie oft Susanne in den folgenden Jahren, während sie längst in der DDR lebte, angeblich in Florida oder im Jemen, im Nahen oder im Fernen Osten gesichtet worden war. Mal stand das als Kleinstmeldung in einer Zeitung, mal mit Foto in einem farbenfrohen Blatt.
    Herzliche Grüße,
    Julia

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Friedhofsruhe
Corinna Ponto
    Aus privaten Gründen blieb ich nicht lange in den USA . Ich studierte noch ein Sommersemester Gesang am New Yorker Mannes College of Music und kehrte schon 1979 in die mitunter fremde deutsche Wirklichkeit zurück. Alles, was mit der RAF zu tun hatte, ließ ich nach der Rückkehr zunächst »links« liegen. Ich kenne das auch von anderen Angehörigen der Opfer – man will definitiv nichts mit diesem klebrigen, undurchsichtigen Phänomen zu tun haben. Es war auch, da man in der Auseinandersetzung mit dem » RAF – Komplex« vollständig allein gelassen wurde, reiner Selbstschutz, sich in einen selbst gesponnenen Kokon zurückzuziehen.
    Dennoch ließ es sich nicht vermeiden, in den folgenden Jahren und Jahrzehnten wie durch eine Nebelwand Strömungen der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Terror wahrzunehmen. Preisgekrönte Filme, TV – Talks der Täter, eine Rede über das eigene Land, verfasst von dem Chauffeur des Mordkommandos gegen meinen Vater, Peter-Jürgen Boock, gelesen vom Intendanten persönlich auf einer angesehenen deutschen Bühne, den Münchner Kammerspielen.
    Der damals im Gefängnis einsitzende Boock trieb viel Aufwand in seiner Rede, um über die Gründe für seinen Terrorweg zu reflektieren. Doch 1989 hatte der »Karl May der RAF «, wie man ihn im BKA nannte, seine Tatbeteiligungensowohl bei dem Mord vom 30. Juli als auch bei der Schleyer-Entführung nicht in vollem Umfang zugegeben, weshalb ihm zwei Jahre später ein weiterer Prozess gemacht werden musste.
    In seinem Text spricht er von einer Friedhofsruhe in den Siebzigerjahren, die als ein Motiv für den Weg in die Gewalt herhalten sollte.
    Friedhofsruhe bezeichnet für mich inzwischen präzise die Aufarbeitungsunfähigkeit der kulturell mächtigen Generation der sogenannten bleiernen Zeit, in der vor allem die Kugeln aus Blei waren. Von Täterfixierung, Täterempathie waren diese Jahre geprägt. Der Unwille, mich auf diese Phänomene zu konzentrieren, sie zu analysieren, verstärkte mein Gefühl der Sprachlosigkeit.
    Meine Mutter und mein Bruder waren froh, in Amerika zu leben. Weit weg von der Konfrontation mit den Tätern. Ich meinte sogar, Schuldgefühle ihnen gegenüber zu verspüren, weil ich mich dem überhaupt aussetzte. Sie wiederum zeigten mir gegenüber fast einen Amerikastolz – ich verstand sie gut. Auswandern kann eine Erlösung sein. Meine Mutter gewann neue Freundeskreise und engagierte sich für künstlerische Jugendförderung, mein Bruder gründete eine Familie, was beiden zu neuen Blickwinkeln und auch Identitäten verhalf. Ich verlagerte Verletzungen, die vielleicht zu nah hätten kommen können, in eine undeutliche Ferne.
    Heute diskutieren wir in der Familie manchmal über den Unterschied der Länder im Umgang mit ihren

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