Patentöchter
Gesicht bekommen. Jetzt habe ich sie mit meiner Mutter gesichtet. Es sind Briefe von engen Freunden und Bekannten, von Geschäftspartnern und Nachbarn. Oft sind es Eltern von Kindern im Alter von Susanne, die einfach heilfroh sind, dass es nicht ihr Kind ist, das die Welt auseinanderzuhauen versucht, sondern eben Susanne. Entsprechend anteilnehmend sind die Briefe. Und in keinem dieser Briefe klingt ein Vorwurf an.
Diese Haltung wurde auch in den Äußerungen von Hajo Wandschneider deutlich, einem Freund unserer Eltern, der Susanne dann in dem Prozess 1991 verteidigt hat. In einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung sagte er damals, dass die Probleme, selbst die Radikalisierung einer Susanne Albrecht, in jener Zeit auch seine eigenen Kinder hätten betreffen können. Und er begründet das auch: »Die Fixierung auf Karriere und Wohlstand, die Verdrängung jenes unendlichen Leidens, das die Nationalsozialisten angerichtet hatten: Intelligenten Kindern ist es nicht verborgen geblieben, dass die Seele ihrer Eltern unter dem Deckel gehalten wurde.«
Das Freisprechen von Schuld hat, wie ich glaube, Gründe, die so banal wie schwer zu verstehen sind. Die Tat meiner Schwester war so unfassbar, dass man sich nicht mehr in sie hineinversetzen konnte. Angesichts der brutalen Verletzung grundlegender moralischer Werte kam es zu der paradoxen Reaktion: Das kann nicht sein! Man versuchte, sich Konstruktionen zu bauen, die das Unverständliche fassbar machten. Susanne ist doch die Tochter von Christa und Hans-Christian, sie ist doch eine von uns, dachte man. Sie hatte doch die Erziehung genossen, die wir genossen hatten. Sie war doch nicht in einem problematischen Umfeld aufgewachsen. Oder etwa doch?
Die Freunde der Eltern reagierten auf diese vollständig unverständliche Tat, indem sie das Naheliegende – es war, wie es war – verwarfen, um nicht in den moralischen Abgrund schauen zu müssen. Lieber wollten sie annehmen, es habe sich bei Susannes Entwicklung um eine Art schicksalhaftes Abgleiten gehandelt oder ihre Tat sei unter Druck oder Zwang erfolgt. Ich will das nicht schönreden. Auch mag der Wunsch, meine Eltern trösten zu wollen, eine Rolle gespielt haben.
Auch Deine Mutter schafft es in ihrem ersten Brief nach der Tat an meinen Vater tatsächlich, meinen Eltern als Trösterin zu begegnen, von der Verwirrung und den Abwegen Susannes zu sprechen, die sie als eher schicksalhaft begreift, als »einen Krieg«, in dem Susanne »ein Werkzeug« sei.
Ich glaube, es bestand ein tiefes Bedürfnis, sich nicht eingestehen zu müssen, dass die Tat wirklich in genau der Grausamkeit zu lesen war, wie sie vor unseren Augen lag. Und das Bekennerschreiben haben Menschen aus unserem Umfeld folglich so verstanden, als habe hier nicht die Signierende, sondern eine ganz andere Person, zwar im Gewande Susannes, aber mit einem anderen Geist, gehandelt.
Julia
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Amerika
Corinna Ponto
Ein großes Meer schafft Abstand. Nach der Ankunft in New York bewirkten gleich zwei Ozeane eine wundersame Distanz zum Sommer 77 – der kraftvoll tosende Atlantik und das unendliche Rauschen der Millionen Geschichten, die in den Schluchten zwischen den Häusermegalithen wohnen. In den USA hat mich das so inspirierend andere Leben geradezu abgeschirmt von dem Verlauf der weiteren RAF – Geschichte in den folgenden Wochen.
Auf einer Einladung bei Leonard Bernstein lernte ich Herbert Berghof, den Schauspiellehrer von Bernsteins Frau Felicia Montealegre, kennen. Leonard Bernstein lebte im selben Haus wie John Lennon, dem Dakota Building. Ein paar Jahre später ging ich nach dem Mord an Lennon an dieser Attentatsstelle genauso zögernd um einen imaginären Tatortrand herum wie in den letzten Tagen zu Hause. Man geht auf einer Schreckenslinie unter dem eigenen Fuß.
Der Schauspieler und Regisseur Berghof war als Emigrant aus Wien nach New York gekommen und hatte dort sein HB Studio gegründet. Schon Ende September assistierte ich ihm bei Off-off-Produktionen in seinem kleinen Schauspielstudio in der Spring Street in Greenwich Village und belegte Theaterklassen bei ihm. In diesen acting classes verästelten sich zahllose weitere Lebensgeschichten und – erzählungen und verbanden sich neu. Kurzum, ich war in einem Dschungel von anderen Schicksalen gelandet – das eigene nahm ich wie durch ein umgedrehtes Fernglas wahr. Ich befand mich in einem Schwebezustand mit weit geöffneten Augen. In Europa suchte man immer eine Erdung, hier suchte man eine
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