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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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meine offenen Fragen – in Kisten und Kartons verpackt und zu Hause im Keller abgestellt, nun baute ich mir imaginäre Räume, zog mich in ein inneres Gebäude zurück, in dem ich diese Räume auf mich wirken lassen konnte. Sie entwickelten und erweiterten sich von ganz allein. Ich machte mich frei von den Wortmeldungen der vielen Berufenen. In den Räumen war ich sicher – Widersprüche konnten mühelos nebeneinander existieren.
    Beim Blick auf den Glastisch entstanden in den blendenden, gebrochenen Sonnenstrahlen, die auf der Zeitschrift kreisten, ganze Bildfolgen und ordneten sich wie von selbst. Vor einigen Jahren, um die Zeit der »Auflösungserklärung« der RAF und der Debatten um die Begnadigung von Terroristen, begann ich solche Räume in einem Skizzenbuch zu entwerfen.
    Einer von ihnen trägt den Titel Schlussstrich: Der Boden ist in den Farben der Deutschlandfahne gestrichen, über diese zieht sich durch die Mitte des Raumes in schwarzer Farbe eine Linie aus großen und kleineren Fragezeichen. Im Dunkel einer Ecke kauern Exterroristen (sie tragen ein T-Shirt mit dieser Aufschrift) und richten grelle Scheinwerfer auf die Nazizeit – der Scheinwerfer, der auf sie gerichtet ist, bleibt ausgeschaltet. Er ist mit einem Transparent mit der Aufschrift Freiheit für die gefangenen Wahrheiten überklebt. Einige aus der Gruppe richten sich zwischendurch auf undsprechen die Schlussworte der Auflösungserklärung von 1998 durcheinander: Wir beenden dieses Projekt. Das Ergebnis kritisiert uns. Es ist nichts als ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Befreiung. Auch in der BRD sind es Zehntausende gewesen, die solidarisch waren. Es war eine Rebellion für eine andere soziale und kulturelle Realität. Die Revolution sagt: Ich war, ich bin, ich werde sein.
    Aus der Gruppe löst sich die Darstellerin von Brigitte Mohnhaupt, die ein T-Shirt mit ihrem eigenen Konterfei trägt. Dieses Hemd gibt es wirklich. Man konnte es im Dada Haus Cabaret Voltaire in Zürich im Jahr 2007 kaufen. Die Darstellerin der Exterroristin ging auf die Ausstellungsbesucher zu und verteilte einen mehrseitigen Fragebogen, den man beim Erwerb des T-Shirts ausfüllen musste. Ist die grafische Gestaltung der Sujets auf diesem T-Shirt schön? Was heißt »die bleierne Zeit«? Gibt es ein vorurteilsfreies Urteilsvermögen?, lauteten einige der fünfzig Fragen.
    Zwei dieser Hemden lagern, fest verpackt, in einer RAF – Terror-Designsammlung in meinem Keller. Ich besitze somit T-Shirts mit dem Gesicht der Mörderin meines Vaters, erstanden in einem öffentlichen Kulturinstitut. Ich könnte sie anziehen und wahnsinnig werden. Oder ich könnte sie anziehen und eine wahnsinnige Aktion damit veranstalten. Beides käme in etwa auf dasselbe hinaus.
    Meine Kinder könnten mich fragen: Wer ist denn das auf deinem T-Shirt? – Das ist die Mörderin eures Großvaters. – Und wo ist sie jetzt? – Sie ist frei. Ihr könnt ihr die heruntergefallene U-Bahn-Karte aufheben, und sie würde euch dankend anlächeln.
    Das Archiv in meinem Keller enthält auch den denkwürdigen Vorschlag einer Schweizerisch-Berliner Theatergruppe. Sie schickte uns ihre Projektidee 2007, mit der Bitte um finanzielle Unterstützung. Das Stück hatte den Arbeitstitel Friedhof ohne Kreuze. Diese bar jeder Empathie fantasierende Truppe stellte sich eine gemeinsame Wanderung mit der freigelassenen Brigitte Mohnhaupt vor, die vom Bahnhof Briesen in Brandenburg zu dem in der Nähe gelegenen ehemaligen Stasi-Unterschlupf gehen sollte, wo die in die DDR übergesiedelten RAF – Mitglieder zunächst untergebracht waren. Dort angekommen, wollten sie ein Bühnenstück aufführen, an dem sich auch die Zuschauer beteiligen und in dem der Rosenstrauß, den S. am 30. Juli 1977 in der Hand gehalten hatte, eine zentrale Rolle spielen sollte. In welchem Land der Welt kann man solch einen Vorschlag erhalten? Er ruht jetzt in einem Album.
    Auf der nächsten Seite dieses Albums klebt ein aktuelles Foto vom Theater am Schiffbauerdamm in Berlin und diesem gegenüber ein Theaterzettel mit einem Foto von der legendären Uraufführung der Dreigroschenoper von Kurt Weill und Bertolt Brecht aus dem Jahr 1928. In der ersten Zeile aufgeführt in der Rolle des Jonathan Peachum: Erich Ponto.
    Das Bild zeigt den Onkel des Opfers Jürgen Ponto, dessen Mörder Christian Klar an demselben Theater 2009, fast genau achtzig Jahre später, einen Praktikumsplatz angeboten bekam. Zeitungsausschnitten auf den folgenden Seiten des

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