Patentöchter
mit ihrer Aussage helfen könnte, eine Straftat zu verhindern, kam also nicht in Betracht. So brachte sie eben andere Aspekte ins Spiel. Dazu gehörte ihr Bemühen, von den damaligen Strukturen der RAF zu berichten, den Mord an Jürgen Ponto detailliert aufzuklären und, was ihr letztlich ebenfalls positiv angerechnet wurde, zu beteuern, dass es sich beim Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Gefängnis von Stammheim tatsächlich um Selbstmorde und nicht etwa um staatlich verordnete Morde gehandelt habe.
So ernsthaft alle Verfahrensbeteiligten um Aufklärung bemüht waren, war doch immer auch der Eindruck präsent,dass das Verfahren durch die Kronzeugenregelung korrumpiert war. Man konnte sich einfach nie sicher sein, ob etwas gesagt wurde, um zur Wahrheitsfindung beizutragen, oder ob es nicht auch darauf ausgerichtet war, den Kronzeugenbonus zu erhalten. Natürlich ist in Strafverfahren das Aussageverhalten der Angeklagten generell darauf ausgerichtet, möglichst glimpflich davonzukommen.
Beim Plädoyer der Bundesanwaltschaft am vorletzten Prozesstag herrschte eine merkwürdige Stimmung im Gerichtssaal. Unterdessen kannten sich alle Zuhörer, die die zehn Prozesstage, die auf viele Wochen verteilt gewesen waren, durchgehalten hatten. Es herrschte gespanntes Schweigen. Jedes der Worte von Bundesanwalt Peter Zeis legten wir innerlich auf die eine oder die andere Schale einer Waage und stellten Vermutungen an, wie der Strafantrag am Ende seines Plädoyers lauten würde.
Er sagte u. a.: »[Wir nahmen] sehr schnell von dem Gedanken, wir hätten mit ihr den Teufel persönlich am Kanthaken, Abschied (…) Ohne Wehmut, wie wir gestehen, aber mit viel Überzeugung. Und dass dieser Meinungsumschwung richtig war – und ist –, das haben dann die weiteren Vernehmungen … ergeben. (…) Sie war und ist aber keine terroristische Gewalttäterin vom Schlage einer Brigitte Mohnhaupt, Adelheid Schulz oder Sieglinde Hofmann … dazu war sie viel zu sehr Täter und Opfer zugleich.« Oder: »Wer Sie, Frau Albrecht, hier vor Gericht erlebt hat – insbesondere erlebt hat, wie Sie auch heute noch unter den von Ihnen mitverübten Verbrechen der › RAF ‹ leiden – der muss mit diesem Menschen Susanne Albrecht Mitleid haben.« Und: »Ohne eine gerechte Strafe kann es für Sie aber auch kein neues Leben in Freiheit geben. Wie anders auch könnten Sie Ihrem Sohn erklären, was Furchtbares war, wenn Sie ihm nicht gleichzeitig sagen können, ich habe dafür gebüßt und gesühnt. So gesehen kann Strafe auch Hilfe sein, um die Vergangenheitzu bewältigen.«
Während des Plädoyers begannen jene Besucher, die das gesamte Verfahren beobachtet hatten, einander Zettelchen zu reichen, auf denen jeweils eine Zahl stand oder ein Wort. Bei mir lief ein Zettel mit der Zahl 6 durch die Reihe und ein weiterer, auf dem »8 ½« stand. Im Verlauf der Ausführungen des Bundesanwalts hatte sich offenbar die Auffassung durchgesetzt, dass er ein überraschend niedriges Strafmaß beantragen würde.
Es kam anders. Unter Einbeziehung der Strafminderungsmöglichkeiten der Kronzeugenregelung beantragte Bundesanwalt Zeis 12 Jahre. Allerdings: Er bewertete den Mord an Jürgen Ponto nicht als Mord, sondern als versuchte Geiselnahme mit Todesfolge.
Das Gericht bestätigte am letzten Prozesstag in seinem Urteil das Strafmaß von 12 Jahren. Allerdings bewertete es sowohl den Fall Ponto als auch den Fall Haig als Mord beziehungsweise versuchten Mord und erkannte die Anwendung der Kronzeugenregelung an.
Der Schock, den die Enthüllungen des Prozesses für meine Familie und mich bedeuteten, lässt sich natürlich auch anders erklären. Nämlich mit Ignoranz und der fehlenden Bereitschaft unsererseits, das, was an Fakten klar vor uns ausgebreitet lag, wahrzunehmen. Denn es hatte in den Jahren zuvor nur einen einzigen Hinweis darauf gegeben, dass Susanne die Tat vielleicht nicht gewollt hatte. Und das waren die Erzählungen von Peter-Jürgen Boock.
Obwohl wir es heute und nach all den Jahren besser wissen, obwohl wir wahrhaben mussten, dass es keinen Zwang gab, der auf Susanne ausgeübt worden ist, bleibt das Gefühl: Es kann einfach nicht wahr sein.
Diese Haltung, diese Verwirrung über den Tatbeitrag, den emotionalen Tatbeitrag, wenn man so will, spiegelte sich gewissermaßen auch in dem Plädoyer ihres Strafverteidigers. »Möglicherweise«, so Dr. Wandschneider, »hatte Susanne den Eindruck, sich opfern zu müssen, damit nichts
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