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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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Schlimmeres passiert.« Diese Interpretation könnte typischer für eine deutsche Biografie nicht sein: der Opfermythos der Täter. Der Opfermythos einer jeden Ideologie, die meint, sich über die allgemein anerkannten Werte stellen zu dürfen.

    Liebe Julia,
    es ist schwer für mich, Deinen Text über den Prozess zu lesen. Ich drifte ab – so wie ich oft aus Sätzen, denen ich nicht traue, herausfalle. Ich glaube manchmal, ich habe Worten gegenüber ein größeres Misstrauen als Menschen gegenüber.
    Ich kannte die Aussagen nicht, die S. vor Gericht gemacht hat. Ich habe sie jetzt nachgelesen. Sie scheinen mir geschickt konstruiert – manches verdankt sich vielleicht auch juristischen Absprachen –, aber ich weiß dadurch nicht mehr. Ist es wirklich wichtig – außer für ihre Verteidigungsstrategie –, wer von den Beteiligten den Namen meines Vaters wann und wie zum ersten Mal erwähnt und gehört hat? Ich finde nicht die Spur eines Hinweises oder einer Einsicht bei ihr, in welchem globalen terroristischen Rad sie damals tätig gewesen war.
    Und wenn die »Entführung« meines Vaters angeblich so fürchterlich schiefgegangen ist – wie ist es dann möglich, dass dieselben Bandenmitglieder, plötzlich absolute Profis, ein paar Wochen später Hanns Martin Schleyer unverletzt aus einem völlig zerschossenen Auto herausholten, nachdem sie die Begleiter getötet hatten? Das erforderte präziseste Ausbildung.
    Mein Vater war ein ausgesprochen meinungsbereiter Mensch. Er hat immer, auch öffentlich, entschieden formuliert, er war kräftig. Wie konnte man annehmen, dass er den etwa achtzig Meter langen Weg bis zur Straße ohne Gegenwehr mitgehen würde – und meine Mutter zurücklassen? Völlig undenkbar. Sollte hier vielleicht etwas schiefgehen? Das ist inzwischen meine Vermutung. So dilettantisch war kein anderes Verbrechen vorbereitet.
    In dem im Prozess erwähnten »Anti-Folter-Komitee« wie im »Internationalen Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in Westeuropa« ( IKV ) sammelten sich entscheidende Täter. Sektionen, wie es in einem MfS-Papier ( BS t U , HA XXII 16554) zu diesem IKV heißt, gab es auch in Italien, der Schweiz, Belgien und den Niederlanden. Es wäre wünschenswert gewesen, dass S. über diese terroristische Keimzelle, in der auch sie ihre terroristische Sozialisation erhielt, ausführlich ausgesagt hätte.
    Der Begriff »Anti-Folter-Komitee« war reine Propaganda – gerade in den Staaten, die die Terroristen damals unterstützten, wurde grausam gefoltert. Der Kontrast wäre erhellend, würde man folgende Bilder übereinanderblenden: die Situation der Gefangenen in Stammheim und das Dasein politischer Gefangener sowohl in den Gefängnissen und Lagern in Osteuropa wie in den arabischen Unterstützerländern der Terroristen.
    Corinna

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Der Raum der
eigenen Geschichte
Corinna Ponto
    Als ich meine Mutter 1993 auf Long Island besuchte und mich eines Nachmittags mit Schwung in einen der Verandasessel fallen ließ, stockte mir der Atem: Auf dem niedrigen Glastisch vor mir lag ein aufgeschlagenes amerikanisches Magazin. Von der Zeitschriftenseite schaute mich S. an. Es dauerte lange, bis ich das Blatt in die Hand nahm. Ich blätterte erst um den Artikel herum – Tortenrezepte, neue Frisuren, heimverschönernde Blumengebinde. Aber da war sie wieder – diese schwarz gewandete Unheimlichkeit. Es war ein detaillierter Bericht über S.’ Jahre in der DDR :
    She was trained by Palestinians in small arms and hand to hand combats. She smuggled explosives. She was used and protected by the east German secret police. She lived for thirteen years on the run in Russia, France, Iraq, Yemen, Czechoslovakia, Belgium, the Netherlands and, of course, on both sides of Germany. She is German. If we may understand Germany as a place where people have complex pasts, this woman’s life is exemplary. (Guy Martin in Mirabella )
    An diesem Glastisch, beim Starren auf dieses Abbild unddiesen Text über S., entstand für mich wie aus dem Nichts etwas Neues, ein Befreiungsmoment – er hält an bis zum heutigen Tag. Nun konnte ich mit all den Texten und Bildern kommunizieren, mit denen ich seit 1977 konfrontiert worden war – und mit denen, die in mir entstanden waren –, ohne an Sprachlosigkeit zu verzweifeln. Meine Gefühle und Gedanken verwandelten sich in innere »Räume«, die ich mit imaginierten »Installationen« ausstattete.
    Jahrelang hatte ich Medienberichte, Fundstücke – und damit auch

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