Patentöchter
Albums kann man entnehmen, warum der Exterrorist die Stelle nicht antrat. Er wollte nicht fotografiert werden. Er war gegen die Veröffentlichung echter Bilder. Einige Seiten weiter berichten Zeitungsartikel aus dem gleichen Zeitraum über die Klage meiner Familie gegen die Verbreitung falscher Bilder in dem deutschen Kinofilm »Der Baader Meinhof Komplex«.
Aus einer Drogeriemarkttüte, die in einer Kellerecke steht, ragen Plakate heraus. Mir wurden die Kinoposter mit den Konterfeis der RAF – Darsteller gratis und ungefragt beim Kauf der DVD in die Tüte gesteckt. Sensibel ausgedacht: Terroristen zum Ausgestalten des Jugendzimmers.
Mit diesen merkwürdigen Kellerdokumenten aus deutscher Theater-, Film- und Kulturgeschichte würde ich für einen Collageraum Wände gestalten, über die eine durchsichtige Folie gespannt ist, auf der in den verschiedensten Sprachen Stell dir vor gedruckt ist – ab und an unterbrochen von der Zeile Made in Germany.
Es gibt bis heute keinen gemeinsamen Gedenkort für die Opfer des nationalen Terrorismus in Deutschland. Theater, Film und Literatur hingegen haben der RAF auf vielfältige Weise Denkmäler gebaut.
In meinem Skizzenbuch finden sich auch Notizen für einen Raum der eigenen Geschichte. Dort bewegen sich um die Zeitachse der eigenen Biografie stumme Figuren, die die großen symbolischen Begriffe darstellen: Schmerz, Verrat, Bekennen, Rache, Niedertracht, Verdrängung, Schuld, Verzeihen, Gnade, Wahrheit. In gewissen Abständen stolpern die Figuren über zwei Steine – einer trägt die Aufschrift »Schweigen«, der andere ist mit »Deutschland« beschriftet. In den Händen halten sie Kriegskoffer, Bücherkoffer, Aktenkoffer, Bombenkoffer, Sprengstoffrucksäcke. Dieses Gepäck ist zum Teil staubig, verkratzt. Splitter von Vergangenheit haften an ihnen.
Auf der Zeitleiste der Terrordaten ist am 7. April 1977 ein Foto des zerstörten Autowracks nach dem Anschlag auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback in Karlsruhe zu sehen. Der Wagen kam direkt an der Moltkestraße zu stehen.
Zum Todesdatum meines Vaters, 30. Juli 1977, platziere ich den originalen Entführungsbus, Kennzeichen F - KA 472, mit den geblümten Gardinen. Daneben eine Ausgabe des Frankfurter Szenemagazins Pflasterstrand von 1978. Dort kann man Äußerungen des später einflussreichen deutschen Politikers Joschka Fischer nachlesen: »Bei den drei hohen Herren [Buback, Ponto, Schleyer] mag mir keine rechte Trauer aufkommen.«
An der Stelle, die den Tag markiert, an dem S. ihre Stelle als Lehrerin im Norden Deutschlands antrat, liegt ein großer Haufen von Zetteln und losen Blättern. Darauf sind Wörter, Vokabeln notiert – ich frage mich, wie sie diese Wörter wohl im Unterricht verwendet:
Auto, Türklingel, Blumenstrauß, Flugzeug, Gitarre, Geige, Musik, Rosen, Familie, Onkel, Tante, Vater, Bruder, Schwester, Eltern, Kinder, Versteck, Tod, Leben, Flucht, Insel, Sommer, Terrasse, Bank, Gartenbank, Süden, Norden, Osten, Westen, Herbst, Europa, ankommen, Briefe, Schweden, Koffer, Italien, Ideologie, Glauben, Frankreich, Meer, Paris, Sand, Perücke, Sprache, Ausland, Heimat, Freunde, Clique, Liebe, Gewalt, Verrat, Globus, Carlos, Polizei, Schwein, Psyche, Trauer, Sprache, Gesicht, Lüge, Krieg, Kugeln, Schweiß, Tempo, Kraft, Schweigen, Sprechen, Wahrheit, Biografie, Akte, Gefühle, Mitgefühl, Vorhang, Mauer, Tat, Gespenst, Vergangenheit, Gnade, spionieren, Geschichte, Recht, Pflicht, Generation, Moral, wählen, Ikone, Plakate, Liste, Untergrund, Führungsoffizier, Grenze, Ural, Operativmaßnahme, Scham, Schock, freiwillig, aussteigen, Sicherheit, Guerillakrieg, bedrohen, bekennen, Training, Ausbildung, Schweigen, Zukunft, Freiheit, Tod, Mord, Identität, Reden, Grab, Erde, Zeitung, Jugend, Kindheit, Festnahme, mühsam, rennen, laufen, links, rechts, lernen, lehren …
Die letzten Requisiten auf der Zeitleiste des Terrors sind der Bombenkoffer von Köln 2006, und für das Jahr 2010 steht dort ein Foto von einem Dörfchen im Jemen mit dem Namen Al Qaida.
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»Was empfinden Sie
bei der Freilassung von
Brigitte Mohnhaupt?«
Corinna Ponto
Eine Zeitung rief am Nachmittag des 25. März 2007 an – es stand etwas auf dem Herd, eine Küchenmaschine lief. »Was empfinden Sie bei der Freilassung von Brigitte Mohnhaupt? Was haben Sie bei dem Verrat von Susanne Albrecht empfunden? Wie ordnen Sie die Rolle von Susanne Albrecht in der Gruppe ein? Bitte seien Sie so gut und antworten noch heute – nein, eigentlich
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