Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
gewesen. Schon seit er elf war, hatte er vorgehabt zu reisen, hatte es aber erst mit sechsundzwanzig geschafft, tatsächlich in ein Flugzeug zu steigen. Und nun war er schon wieder zurück und versteckte sich in seinem Elternhaus in St. John’s Wood vor Leuten, die er kaum kannte. Das endlose Zeremoniell, Beileidsbekundungen entgegenzunehmen, erforderte Geduld und Dankbarkeit, und beides lag ihm nicht. Er hatte Kopfschmerzen. Nonstop war er über mehrere Zeitzonen hinweg gereist: Zugfahrt nach Sydney, Flug nach Singapur, Langstreckenflug nach Manchester, Kurzflug nach London – eine Irrsinnshetzerei, nur um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Als er vor zwei Tagen endlich seinen Vater in die Arme geschlossen hatte, war sein Körper immer noch in Queensland. Bei seiner Heimkehr klaffte im Herzen der Familie eine unvorstellbare Lücke. Nun saß er auf einem Schemel und fragte sich, wieso es ihn je von hier fortgezogen hatte.
Den ersten Impuls zu reisen weckten Abenteuergeschichten, die sein Vater ihm an kalten Abenden am Kamin vorlas: Berichte von Expeditionen, die irgendein Komitee zum Wohle der Menschheit, der Erkenntnis und der Geographie finanziert hatte. Das war die Welt von Männern, die sich auf großer Fahrt Bärte wachsen ließen, Khaki trugen und Macheten schwangen. Die Romantik dieser Vorstöße ins Unbekannte hatte seine jungenhafte Seele erfüllt und sich selbst durch Schuldbildung, das Wissen um koloniale Unterdrückung und die Erfindung des Flugzeugs nicht verdrängen lassen.
Vielleicht war es der Geist der großen Philanthropen, der Nick bewog, Arzt zu werden. Als Student in Edinburgh hatte er überlegt, (irgendwann) eine Klinik am Ufer des Amazonas aufzubauen – eine Idee, die er für sich behielt – was an sich schon zeigte, dass ein »normales Leben« wenig Reize für einen Mann besaß, der in ein Kanu gehörte. Nick sah seine Zukunft bei Ärzte ohne Grenzen oder an der Seite von Mutter Theresa, nicht in einer Facharztpraxis.
Der zweite Impuls zu reisen kam von unerwarteter Seite: nämlich durch das Verhältnis zu seiner Mutter. Als er heranwuchs, schlichen sich zwischen ihnen undefinierbare Spannungen ein, die sich weniger in Streitigkeiten als im Verlust des Einklangs äußerte: jener bereitwilligen Biegsamkeit, mit der Kinder sich dem Leben ihrer Eltern einfügen.
Als Junge hatte Nick Elizabeth selten vor neun Uhr abends gesehen, aber dann hatte sie sich zu ihm aufs Bett gesetzt und sich viel länger mit ihm unterhalten, als es vernünftig war. Es gab keine Geheimnisse zwischen ihnen. Er sprach das Urteil über seine Lehrer, und sie bestimmte das Strafmaß – verurteilte etwa den Rektor Mr. Openshaw, eine Woche lang mit einer Wäscheklammer auf der Nase im Freizeitpark Butlins zu stehen. In dieser Zeit verbündeten sie sich gegen Einsicht, Vernunft und die Erwachsenen schlechthin. Anders als üblich erwuchs ihre Kluft nicht aus Meinungsverschiedenheiten – obwohl auch sie noch kommen sollten –, sondern aus seiner Größe. Es fing an, als er vor überschießendem Adrenalin schlaksig durchs Haus polterte und bei Tisch Sachen verschüttete. Als er kräftiger wurde und ihr über den Kopf wuchs, reagierte sie gereizt. Es war gerade so, als hätte man in seiner Kindheit nicht vorhersehen können, dass er zum Mann heranwachsen würde. Nick konnte sich nicht mehr erinnern, wann es zum ersten Mal passierte, aber ihre abendlichen Besuche in seinem Zimmer hörten auf, ohne dass ein vergleichbares Ritual an ihre Stelle trat. Sie wollten es beide so, ohne es auszusprechen; vielleicht sogar, ohne es zu wissen. Er lag im Dunkeln und wusste einfach, dass sie noch im Grünen Zimmer über den Akten eines Falles saß. Beim Frühstück sah er den Gerichtssaal schon in ihrer Miene lauern. An den Wochenenden mischte sie sich immer in laufende Gespräche ein und verstand alles falsch. In dem Maße, wie er sich zum Mann entwickelte, füllte ihre Arbeit die Lücke aus, die seine schwindende Kindheit hinterließ. Das war Teil einer Symmetrie, die ihm durchaus nicht passte. Er wollte zwar sein eigenes Leben anderswo aufbauen, fand es aber gar nicht gut, dass sie damit einverstanden war. Am Abend, bevor er nach Edinburgh ging, weinte sie: über den Verlust, aber auch vor Erleichterung, meinte er. Die meisten Freunde, die er fand, erzählten die gleiche Geschichte.
Kameradschaft, Kater und Examen markierten seine wachsende Unabhängigkeit. Und aus diesem neuen Blickwinkel begann er, die unbeholfene Art
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