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Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Titel: Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Brodrick
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rief Charles einen ehemaligen Kunden in Brisbane an, dessen Neffe, wie sich herausstellte, eine Arztpraxis in Rockhampton hatte.
    »Wo?«, fragte Nick.
    »Rocky.« Charles machte eine Pause, als schweife sein Blick über Millionen blökende Schafe. »So nennen es die Einheimischen.«
    »Oje, nein …« Elizabeth unterstrich einen Satz in einem Schriftsatz. Vorübergehend tauchte sie auf. »Wer?«
    »Nicht wer«, sagte Nick mit der Erleichterung, die einem Abschied vorausgeht. »Das ist ein Ort.«
    »Wo?«
    »Im Land Oz.«
    Sie war verdutzt. Sie hielt das alles nur für Gerede. »Oz«, sagte sie und tauchte wieder ab.
     
    Nick flog im Regen ab Heathrow. Das Flugzeug durchbrach die Wolkendecke, und es war nur noch blau: ein herrliches, reines, endloses Blau, als sei er in einen Saphir eingedrungen. Von Sydney aus nahm er einen Nachtbus, setzte sich in die erste Sitzreihe und schaute in das Scheinwerferlicht, das die Zukunft eröffnete. Morgens bahnten sie sich einen Weg durch ein Meer hohen grünen Zuckerrohrs. Mittags stand er barfuß auf dem brodelnden Asphalt und trank frischen Ananassaft. Er konnte das Meer riechen. Weit und breit war kein einziges Schaf zu sehen.
    Der Neffe hieß Ivan und lebte in der irrigen Annahme, Nicks Vater habe dem Unternehmen seines Onkels alle möglichen finanziellen Wohltaten erwiesen – was schlichtweg unmöglich war –, und nun strich Nick stellvertretend den Dank ein. Für einen bescheidenen Arbeitsaufwand erhielt er ein unbescheidenes Gehalt. Die Welt war tatsächlich völlig anders, wenn alles auf dem Kopf stand.
    Jede Woche leistete Nick ein gewisses Arbeitspensum in einer Schule in Yeppoon ab, wo es fette Aga-Kröten im Swimmingpool gab. Einmal wöchentlich nutzte ein Tauchclub die Anlage. Nick trat ihm bei. Er kaufte sich eine Ausrüstung, machte einen Tauchkurs und entdeckte eine neue Welt, größer, sauberer, tiefer und geheimnisvoller als alles, was er bis dahin kannte. Ungesehen hatten unzählige winzige Polypen das Größte auf Erden geschaffen: ein Riff, ein Korallenreich.
    Dann trafen allmählich die Briefe seiner Mutter ein, wehmütige Zeilen ohne die Unterschrift seines Vaters. Anfangs erinnerten sie an seine ersten Schuljahre – die Zeit, die sie verpasst hatte. Aber dann wurde ihr Ton inquisitorisch. Sie wollte wissen, wann er zurückkäme. Aus irgendeinem Grund konnte er ihr nicht schreiben, also griff er am Abend seines Geburtstags zum Telefon. Er »ließ beiläufig fallen«, dass er noch ein Jahr bleiben würde – was er ohnehin vorgehabt hatte. »Wie wär’s mit Papua-Neuguinea«, sagte sein Vater. »Die Bundi haben einen Schmetterlingstanz.« Seine Mutter murmelte, es sei bald Weihnachten. »Das Haus ist riesig und leer ohne diese grässliche Musik. Deine Turnschuhe stehen noch neben der Tür, wo du sie hingestellt hast. Ständig denke ich an deine Füße.«
    Eines Tages, als er vor Green Island tauchte, begriff er. Eine Reihe kleiner leuchtend bunter Fische stand Schlange vor einer Art Pflanze, die aus den Korallen wuchs. Es war wie eine Autowaschanlage. Die Blätter – oder was es auch sein mochte – öffneten sich, und ein Fisch schwamm hinein. Nach einer Weile öffneten sich die Blätter wieder, der Fisch kam heraus und der nächste nahm seinen Platz ein. Und als er da unten, in der Tiefe, Fische beobachtete, die sich reinigen ließen, wurde ihm klar, dass seine Mutter ihm etwas sagen wollte, dass sie nicht darüber schreiben konnte und dass sie nicht mit ihrem Mann darüber gesprochen hatte.
    Nick buchte einen Flug.
    Und ein paar Tage später fand man seine Mutter tot in einem geparkten Wagen. Sie saß mit geschlossenen Augen lächelnd am Steuer. Erst ein Fußgänger, der ans Fenster klopfte, merkte, dass da etwas nicht stimmte. Ein Sanitäter fand ihr Handy im Fußraum. Sie musste es fallen gelassen haben, als sie versuchte, Hilfe zu rufen. In Reichweite auf dem Beifahrersitz lag ein Satz alter Löffel mit dem Etikett » £ 30 «.
    Im Flugzeug nach Singapur presste Nick den Kopf ans Fenster. Eine furchtbare Gefühlswelle brach über ihn herein. Er weinte verzweifelt. Die Frau neben ihm bat um seinen Joghurt, aber er konnte sie nicht einmal ansehen, um ja zu sagen. Seine Mutter war unerreichbar. Die vierundzwanzigstündige Flugreise würde ihn ihr kein bisschen näher bringen. Als er in Manchester ankam, hatte ihn die Wucht des Kummers eine schmerzliche Wahrheit erkennen lassen: Seine Mutter hatte ihm etwas sagen wollen, und er hatte es zu spät

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