Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
dazu, jeden Angeklagten für schuldig zu halten. Es war wie eine ansteckende Krankheit, die man sich holte, wenn man allzu vielen fadenscheinigen Verteidigungsstrategien ausgesetzt war. »Du hast Glück, dass du von alledem abberufen wurdest«, sagte sie und fragte respektlos: »Hast du eine Stimme gehört?«
»Eine ganz leise«, antwortete Anselm. »Ich musste erst lernen, sie wahrzunehmen.«
Sie hatte ihre Frage als Scherz gemeint, fragte aber jetzt ernst: »Wie?«
»Sie äußert sich durch deine Wünsche.«
Elizabeth dachte eine Weile nach, als studiere sie das Fugenmuster der Gartenmauer. »Du hörst sie, indem du tust, was du willst?«
Zögernd erklärte Anselm, was er erlebt hatte. »Ja. Aber es sitzt tiefer als jedes Verlangen. Es lässt dich nicht los. Und selbst dann brauchst du Anleitung von jemandem, der sich in den Wegen des Herzens auskennt, damit du nicht einer Selbsttäuschung erliegst.«
Elizabeth schien nach einem Strohhalm zu greifen. »Jemanden, der dir hilft, eine Stimme zu verstehen, die sich nicht zum Schweigen bringen lässt?« Es war, als habe sie beschlossen, Nonne zu werden. Sie kannte das Ergebnis bereits.
»Genau.«
»Und sie zu ignorieren käme einer Art Tod gleich?«
Lächelnd musterte Anselm den Vorhang ihres Haares mit der silbernen Strähne. Es war immerhin ein Schlusspunkt. Sie hatte wohl ein Handbuch über das spirituelle Leben gelesen.
Elizabeth hakte nach: »Du hast also gar keine andere Wahl?«
»Eigentlich nicht.« Das war kein Ulk mehr. Anselm hätte gern den leichten Tonfall wiederbelebt, der sich verflüchtigt hatte. »Ich habe den Eindruck, Gott ist nicht sonderlich auf einen Dialog erpicht. Das kommt davon, wenn man immer weiß, was das Beste ist.«
Sie nahm eine Praline aus der zweiten Lage. »Sind sie streng, diese Mönche?«
»Nicht besonders … Na ja, schon … aber in Dingen, die den meisten Menschen egal wären.«
»Du kannst also mal raus, um was zu erledigen?«
»Das hängt vom Prior ab.«
»Und wie ist er?«
Anselm dachte an die verschiedenen Antworten, die er darauf geben könnte: dass er nicht viel redete, einem immer einen Schritt voraus war, aber er sagte: »Er nimmt dir deine Illusionen.«
An der Tür küsste sie ihn auf die Wange und sagte: »Ich werde unsere Plauderstündchen vermissen.«
Es war eine Tatsache, die keiner von ihnen je ausgesprochen hatte: Freitags hatten sie die Kanzlei oft als Letzte verlassen. Sie hatten dann noch eine Viertelstunde im Aufenthaltsraum gesessen, die Füße auf den Tisch gelegt und über das Leben und seine Auswüchse geredet. Darin zeigte sich eine merkwürdige Eigenheit in Elizabeths Beziehungen zu Menschen. Die verschiedenen Bereiche ihres Lebens – ihr Anwaltsberuf, die Familie, die Schmetterlingsgesellschaft und so weiter – waren voneinander abgeschirmt wie die Betten in einer Krankenhausstation. Soweit Anselm wusste, kamen sie nie an einem Tisch zusammen. Die anderen kannte er immer nur aus Erzählungen. Das hatte ihren Plaudereien Bedeutung verliehen, ihn aber auf Abstand gehalten.
Anselm ging mit dem unbehaglichen Gefühl zu Bett, dass Elizabeth wie alle Anwälte bei einer Vernehmung etwas hatte herausfinden wollen, ohne dass er merkte, um was es ihr ging. Und während Anselm geredet hatte, hatte er sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass Elizabeth eigentlich etwas hatte loswerden wollen, dieser Wunsch sich aber verflüchtigt hatte. Noch tagelang musste er an ihre silberne Haarsträhne denken. Sie war äußerst attraktiv, fand er. Es war, als sei ihm das vorher nie aufgefallen.
»Ich brauche deine Hilfe«, hatte sie zehn Jahre später ruhig erklärt.
Wieder war sie unangemeldet gekommen. Anselm führte sie an die Steinbank am Lark. Auf dem lang gestreckten Blumenbeet leuchteten Dahlien. Sie hatte sich kaum verändert. Obwohl sie mittlerweile Ende fünfzig war, hatte sie immer noch kohlrabenschwarzes Haar mit einem Anflug von Silber, der allerdings nicht mehr so hervorstach.
»Ich habe dich mal gefragt, ob du die Möglichkeit hast, Erledigungen zu machen, erinnerst du dich?«
Anselm nickte.
Sie holte eine Schachtel Milk-Tray-Pralinen aus ihrer Handtasche. »Du kannst die Karamellpraline haben.« Bix schien in der Ferne den Ostrich Walk zu blasen.
Anselm sagte nichts. Das Klosterleben hatte ihn zumindest eines gelehrt: zu wissen, wann man schweigen musste.
Mit einer anmutigen Geste schob Elizabeth sich ihr Haar hinter das Ohr. Ihr Profil zeichnete sich fein vor dem verwaschenen
Weitere Kostenlose Bücher