Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Stunde vor dem Telefonat war er einem Schneepflugfahrer am Rand von Benediktbeuern begegnet – jenem Dorf, in dem er früher zur Schule gegangen war, mehr als fünf Kilometer von Ort entfernt. Wie konnte er sich nur darüber getäuscht haben, fragten sich später die Freunde, er kannte die Gegend doch so gut. Der Gemeindemitarbeiter war der Letzte, der mit Dominik von Angesicht zu Angesicht sprach.
»Wohin gehst du?«
»Nach Kochel.«
»Hoffentlich kennst du dich aus?«
»Ja, schon.«
Kurz vor sieben, es war noch dunkel, rief Dominik seine Schwester Sandra an.
»Wo bleibt denn Papa?«
»Wollte dich holen. Seid ihr euch nicht begegnet?«
Der Vater aber las am vereinbarten Ort nur Manfred auf. Sie fuhren die Landstraße entlang, Dominik war nirgendwo. Zur gleichen Zeit hörte der Wirt der einsamen Bavariahütte Geräusche am Fenster, blickte hinaus. Er sah niemanden, aber frische Spuren im Schnee. Es war die letzte Behausung, die Dominik passierte. Drei Tage später würde der Vater hier seine Spuren weiterverfolgen. Sie führten über einen Zaun hinweg, dann im Zickzack den Hügel hinauf, wo im Sommer Kühe weideten. Warum nur war er hier hochgegangen und nicht den breiten Weg hinunter ins Tal?
Zu Sandra sagte er im nächsten Telefonat: »Ich glaube, ich habe mich verlaufen.«
Sie fragte, ob er an irgendeinem Stadel oder Schild vorbeigelaufen sei, ob er sehe, wohin der Boden an- und wohin er absteige. Er solle immer nach unten gehen.
»Keine Ahnung. Ich sehe nur Bäume.«
Sie wolle ihn über einen Handyortungsdienst im Internet suchen. Er würde eine SMS bekommen und müsse nur auf »Antworten« drücken.
»Mach ich.«
Dominik versuchte zu lachen, doch es klang nicht echt. Sie berichtete den Eltern vom Telefonat. Die Mutter beruhigte sie. Dominik hatte sich verlaufen, das passierte, aber er kannte die Gegend doch so genau. Früher waren er und seine Freunde mit den Fahrrädern im Gelände unterwegs, später mit den Motorrädern. Die Hügel waren nicht hoch, überall gab es Wege, auf denen man binnen längstens einer halben Stunde ins Tal gelangte.
Um 7.21 Uhr erhielt der Wachhabende auf der Polizeidienststelle Weilheim den ersten Anruf von Dominik. Er kam ihm verwirrt und desorientiert vor. Seine Freunde werteten das später als Zeichen höchster Verzweiflung, denn Dominik machte um Polizisten sonst den weitesten Bogen. Bis acht Uhr meldete er sich drei weitere Male und wähnte sich jedes Mal woanders. Zuletzt sagte er, seine Füße täten weh und seien nass, er würde sich schlafen legen.
Um Viertel nach acht sprach er ein letztes Mal mit Sandra.
»Mein Akku ist schwach.«
Ob er die SMS des Handyortungsdienstes beantwortet habe, fragte sie. Er sagte, er habe keine bekommen. Hatte er das Prinzip nicht verstanden? Später landeten ihre Anrufe auf seiner Mailbox.
Um sieben Uhr trat der Unfallchirurg Sven Hungerer seinen Notarztdienst im Unfallklinikum Murnau an, der an Neujahr immer sehr aufregend war. Zwischen neun und zehn Uhr würden sich die ersten Skifahrer nach einer kurzen Nacht gerädert auf die Pisten wagen, spätestens dann rechnete er mit seinem ersten Hubschraubereinsatz.
Er liebte diese Tage, den Ausbruch aus der Klinikroutine, die Flüge über die Berge, die er seit seiner Kindheit kannte. Auf vielen Gipfeln hatte er nach Ski- und Klettertouren selbst gestanden. Jeder Einsatz war ein Aufbruch ins Ungewisse. Auch nach 20 Jahren in der Notfallmedizin spürte er immer noch dieses Herzklopfen, und seine Nerven waren angespannt, sein Geist zu Höchstleistungen bereit.
Der erste Anruf aus der Einsatzzentrale kam um 8.24 Uhr, früher als erwartet: Suchflug nach einer vermissten Person. Ungewöhnlich, denn dem Notarzthubschrauber fehlte für solche Einsätze das wichtigste Ausrüstungsutensil – eine Infrarotkamera, mit der man Menschen aufgrund ihrer Körperwärme auch unter Bäumen, im Gebüsch und unter Dächern aufspüren konnte.
Den Grund für ihren Sondereinsatz sah Hungerer, als sie in die Höhe stiegen. Nach Süden zu war der Himmel blau, in der aufgehende Sonne blendete ihn das gleißende Weiß der schneebedeckten Berghänge. Nach Norden aber stand eine undurchdringliche Wand aus Wolken. Inversionswetterlage. Dort unten im Nebel konnten die Hubschrauber der Polizei mit ihren Suchgeräten wegen der Sichtbehinderung nicht starten.
Es war ein aussichtsloses Unterfangen. Das Areal, in dem der Vermisste verlorengegangen war, erstreckte sich über vier Quadratkilometer, sie flogen
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