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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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Gehirn die Antikörper angreifen, können sie verschiedene bekannte Krankheiten imitieren. Wissenschaftler fanden sie mittlerweile auch im Nervenwasser von Patienten mit frisch diagnostizierten Schizophrenien und Demenzen. Manchmal waren die Untersuchungsergebnisse im Nervenwasser zunächst völlig unauffällig, so dass niemand ein entzündliches Geschehen im Gehirn vermutet hatte. Man müsse, so Prüß, genau wissen, wonach man suche, und er vermutet, dass längst noch nicht alle Antikörper bekannt sind, die Gehirnerkrankungen hervorrufen.
    Lydia Schneiders Krankheitsbild war klassisch. In fünf Jahren schon, schätzt Prüß, werde jeder Medizinstudent das Syndrom diagnostizieren können, wenn es so beginne und verlaufe. Aber er kennt auch Patienten, die nie epileptische Anfälle hatten oder in komaähnliche Zustände fielen. Menschen, die mit falschen Diagnosen in Landeskrankenhäusern oder Pflegeheimen vor sich hin dämmerten. Ihre Krankheit hatte einen Namen, nur den falschen.
    Streit unter den Wissenschaftlern herrscht heute noch über die Frage, ob diese Antikörper vielleicht einfach nur »vorkommen«, aber nicht die Ursache der Erkrankungen sind.
    Harald Prüß hält den Skeptikern gerne entgegen, dass Therapien wie Blutwäsche und starke Immunsuppressiva oft beeindruckend schnell anschlagen.
    Im Falle von Lydia Schneider aber ist er sich nicht sicher, ob es wirklich seine Therapie war, die sie wieder ganz gesund gemacht hat. Es sei wahrscheinlich; denkbar sei aber auch, dass der Krankheitsschub ohnehin im Abklingen war, sagt er. Mehr Gewissheit hat er in Bezug auf seine zweite Patientin, die 22-jährige Abiturientin. Denn sie hatte einen kurzen Krankheitsverlauf, ihr Zustand besserte sich rasch nach der Blutwäsche und Operation. Mittlerweile studiert sie an einer Universität.
    Seit er Lydia Schneider fälschlicherweise eine dissoziative Störung attestierte und sie somit in die Ecke der von Neurologen häufig verachteten psychosomatischen Störungen stellte, hat er stets ein ungutes Gefühl, wenn er Patienten mit angeblich rein psychisch bedingten Leiden sieht. Vielleicht, sagt er, stelle sich auch ein Teil dieser Krankheitsbilder in einigen Jahren ganz anders dar.
    Möglicherweise seien für einen beträchtlichen Anteil der klinisch diagnostizierten Schizophrenien in Wirklichkeit Autoantikörper verantwortlich, die noch nicht identifiziert wurden, glaubt er. Die typischen Verlaufsformen der Schizophrenie sprächen für diese gewagte Hypothese – sie erinnerten verdächtig an eine andere Krankheit, deren Autoimmungenese heute außer Zweifel steht: die multiple Sklerose. Wie bei der MS erkrankten die meisten Schizophrenie-Patienten vor dem 30. Lebensjahr, ein nicht unbeträchtlicher Teil aber auch erst im höheren Alter, dann, wenn sich eine hohe Zahl verschiedenster Autoantikörper im Blut tummeln. Bei beiden Erkrankungen erlebten die meisten Patienten einen wellenförmigen Verlauf über Jahrzehnte mit Schüben und gesunden Phasen. Andere erholten sich nie wieder nach dem ersten Schub und wurden nach wenigen Jahren pflegebedürftig bis an ihr Lebensende.
    So taucht allmählich im Archipel des seit dem 19. Jahrhundert festgefügten psychiatrisch-neurologischen Diagnosesystems eine neue Insel auf, die bald schon die Geografie des gesamten Archipels verändern könnte. Noch weiß niemand, wie groß sie sein und wie viel Land sie den anderen Inseln wegnehmen wird.

    Lydia Schneider ist noch heute gesund. Sie hat fünf Jahre ihres Lebens verloren, an die sie sich nicht oder nur bruchstückhaft erinnert.
    Doch sie versucht, das Gute darin zu sehen. Wer weiß, ob sie Mutter geworden wäre, wenn nicht alles genau so passiert wäre? »Ohne mein Kind wäre ich längst nicht so glücklich«, sagt sie.
    Ihr Sohn ist bald drei Jahre alt und kann in die Kita. Dann will sie ihre nächsten Ziele angehen: arbeiten – wenn auch vielleicht nicht mehr mit den von ihr so geliebten Sprachen Spanisch und Englisch, die sie nicht mehr fließend beherrscht. Spaß mit netten Kollegen haben, kein Geld vom Staat mehr empfangen, für sich selbst sorgen – und abends wieder mal weggehen und tanzen.

17 Grad
    W eißes Silvester. Die besten Freunde beieinander auf einer Hütte am Berg, von der aus sich der Blick über das weite Tal des Voralpenlands eröffnete. Draußen eine Bar mit heißem Glühwein, ein großes Feuer, in der Hütte Bier, Schnaps und Partymusik zum Mitsingen. Konnte es schöner sein?
    Sie kannten sich von klein

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