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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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vorbei an der Fundstelle, nur einen Steinwurf entfernt. Einer der Suchtrupps war hier vorbeigekommen, möglicherweise schon Stunden zuvor. Hungerer rannte.

    Drei Punkte sind der tiefste Wert in der Glasgow Coma Scale, die Ärzten als Richtwert für die Einschätzung der Komatiefe eines Bewusstlosen dient. Drei Punkte bedeutet: keine Atmung, kein Puls. Keine Reaktion auf Schmerzreize. Keine Lichtreaktion der Pupillen. Tote haben drei Punkte, Menschen im tiefsten Koma auch, und selbst mit den Methoden der Hightechmedizin ist die Unterscheidung zwischen einem frisch Verstorbenen und einem Lebenden nicht möglich. Dominik hatte drei Punkte.
    Du Idiot! Was hast du dir und deiner Familie da bloß eingebrockt, dachte Hungerer. War der Junge schon tot? Die Körpertemperatur würde den entscheidenden Hinweis liefern, hoffte er und steckte ihm das Thermometer ins Ohr. Fünf, sechs, sieben, zehn Sekunden, komm schon! Digitalanzeige: »Error«. Außerhalb des Messbereichs … also unter 20 Grad? In den Büchern der Notfallmedizin steht, dass der schwerste Grad der Unterkühlung bei 28 Grad beginnt. Wird diese Schwelle unterschritten, gehen die rhythmischen Kontraktionen des Herzens, die Blut in die Adern pumpen, über in ein Flimmern, dann hört es auf zu schlagen. Der Kreislauf bricht zusammen.
    Unter 20 Grad, hat das jemals einer überlebt? Wo endet der schwerste Grad der Unterkühlung, wo beginnt der Tod? Hungerer hatte in seinen Büchern keine Angaben dazu gefunden. Wie lange schon wurde das Gehirn dieses Jungen nicht mehr mit lebenswichtigem Sauerstoff versorgt? Ohne Zweifel eine Stunde, vielleicht schon länger!
    Es war der Moment, den er schon so oft erlebt hatte, er war Herr über Leben und Tod. Niemand kann einen Notarzt dazu zwingen, einen Menschen wiederzubeleben, der aller Wahrscheinlichkeit nach tot ist. Ohnehin gelingt es nur bei sieben Prozent aller leblos aufgefundenen Menschen, das Herz wieder zum Schlagen zu bringen, und von diesen wenigen erreicht nur jeder zweite lebend das Krankenhaus.
    Es ist eine heikle Entscheidung. Niemand will einen »Zombie«, wie es im Medizinerjargon heißt, zurück ins Leben holen. Hungerer versuchte, Für und Wider abzuwägen, während seine Hände taten, was zu tun ist, wenn man einen Menschen zurück ins Leben holen will. Notfallkoffer auf, Intubationsbesteck richten. Sein Mund richtete knappe Anweisungen an den Sanitäter. Reflexe, über zwei Jahrzehnte eingeübt! An Hungerers Ohr drangen Wortfetzen der Umstehenden, ein Mann sagte, er kenne die Eltern gut, Dominik sei der Nachzügler, das Nesthäkchen, geliebt und verwöhnt. Er sah, wie sein Sanitäter den Mann ablöste, der bei Dominik kniete, die gestreckten Arme auf sein Brustbein aufstützte, auf und nieder, eins, zwei, drei, vier, fünf, Luft, eins, zwei …
    Die Männer des Suchtrupps hatten Fakten geschaffen. Zehn Minuten vor seinem Eintreffen hatten sie begonnen zu reanimieren. Es entscheidet sich leichter, eine Reanimation gar nicht erst zu beginnen, als sie abzubrechen.
    Intubation also!

    Es gibt nur wenige Orte der Welt, die für eine Diskussion ungeeigneter sind als ein Rettungshubschrauber. Der Lärm der Rotoren übertönt jedes Wort, am besten funktioniert die Kommunikation in Stakkato-Sätzen per Funkgerät über Ohrhörer. Innsbruck hat zugesagt, hörte Hungerer. Ende abzusehen, sie würden in einer Viertelstunde landen. Dann: Innsbruck hat doch abgelehnt. Vermutlich wollten sie ihre Herz-Lungen-Maschine nicht für einen aussichtslosen Kandidaten hergeben, dachte er. München war immer noch nicht anfliegbar wegen des Nebels. Aber sie brauchten ein großes Zentrum mit Herzchirurgie. Nur dort hatte Dominik noch eine minimale Chance. Wohin jetzt? Der Pilot wartete auf eine Entscheidung – auf seine Entscheidung. Hungerers Hände schmerzten, er spürte die Kraft seiner Armmuskeln schwinden. Zu zweit würden er und der Sanitäter nicht mehr lange durchhalten.
    »Zurück! Murnau!«, brüllte er.
    Sie würden Zeit gewinnen, andere könnten im Krankenhaus die anstrengende Herzdruckmassage übernehmen. Notfalllabor – binnen fünf Minuten würden sie erfahren, ob es Zweck hatte weiterzumachen.

    Kalium ist ein Salz, das im Körper sehr ungleich verteilt ist. Im Zellinneren ist seine Konzentration 37-mal höher als im Serum des Blutes. Der Körper toleriert ein Abweichen von diesem Gleichgewicht nur in geringem Maße. In den USA spritzen Henker Todesstrafe-Kandidaten Kaliumchlorid, um den Herzstillstand

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