Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
herbeizuführen.
Schwere Unterkühlung schädigt die Körperzellen eines Menschen. Das Kalium dringt dann durch die durchlässigen Membranen in sein Blut. Die Höhe des Kaliumwerts gilt als zuverlässigster Indikator für das Ausmaß der Zellschäden. Wenn der Normalwert auf das Dreifache angestiegen ist, lautet die Regel der Notfallmedizin: Abbruch der Reanimation. Dominiks Zukunft hing von diesem einzigen Laborwert ab.
Unfallkrankenhaus Murnau, Schockraum. Grelles Licht, viele Stimmen rufen durcheinander, Pfleger und Schwestern stehen in Reih und Glied, um nacheinander im Staffellauf die Herzdruckmassage zu übernehmen. Hungerers Finger fahren hektisch über die Tastatur des Telefons, Münchner Vorwahl, er muss so schnell wie möglich ein Krankenhaus mit Herz-Lungen-Maschine finden, das bereit ist, Dominik aufzunehmen. Alle warten auf den entscheidenden Blutwert, als einer ruft. »17 Grad!« Es ist die Körperkerntemperatur von Dominik, gemessen in der Harnblase. Kälterekord, denkt Hungerer. Der Kaliumwert muss katastrophal sein, wir bemühen uns umsonst. Währenddessen wartet er darauf, dass der diensthabende Herzchirurg des Münchner Klinikums ans Telefon kommt. Hungerer hat früher dort gearbeitet, kennt viele Kollegen persönlich und setzt auf den kurzen Draht.
Doch der Name des Arztes ist ihm unbekannt, und seine Stimme klingt träge, als er beginnt, Fragen zu stellen. Völlig unwichtig, ob Dominik bekannte Vorerkrankungen hat, will Hungerer in den Hörer brüllen, da ruft ihm ein Pfleger den entscheidenden Wert zu. »Kalium 7,55!« Hungerer weiß jetzt: viel zu hoch. Aber die Wiederbelebung macht Sinn! Egal, wie tief die Körpertemperatur gerade liegt, erst bei einem Kaliumwert von zwölf mmol pro Liter müssten sie abbrechen. Vielleicht wird Dominik nie mehr erwachen, vielleicht ist er hirntot, das aber können sie nicht im Schockraum entscheiden. Sie sind in einem Grenzland zwischen Leben und Tod, das vor ihnen noch kaum jemand betreten hat. Aber vielleicht hat ja der schlichte Leitsatz für Unterkühlungen auch hier noch seine Gültigkeit: »Niemand ist tot, solange er nicht warm und tot ist.«
Doch der Arzt des Münchner Klinikums lehnt ab – immer noch keine Herz-Lungen-Maschine. Blitzsituationsanalyse mit den Anästhesisten. Sie haben einen jungen Patienten auf dem Tisch, der vielleicht leben kann. Sie sind verpflichtet, weiter zu reanimieren, noch mal zwei Stunden, vier Stunden, zehn Stunden – es gibt keine wirkliche Grenze, wann man aufhören »darf«. Aber wie bekommen sie ihn warm – ohne Herz-Lungen-Maschine? Ihre einzige Möglichkeit: Sie könnten die Beinvene freilegen und eine Art Tauchsieder um sie legen, der von warmem Wasser durchflossen wird. Die Aufwärmgeschwindigkeit würde nicht ausreichen, wirft einer der Anästhesisten ein. Bis 28 Grad ginge das, aber nicht bei 17. Hungerer hängt wieder am Telefon. Deutsches Herzzentrum, diensthabender Arzt. Der hat keine Fragen, das Gespräch dauert eine Minute. »Sie nehmen ihn!«
Also doch München. Aber wie bringen sie ihn dorthin? Noch steht die Wolkenwand im Norden, der Flug ist unmöglich, oder? Notarztwagen? Das würde bedeuten: mindestens noch eine Stunde Reanimation auf engsten Raum. Dominiks Chancen würden noch weiter sinken. Der Pilot sagt, er könnte tief über dem Flussbett der Isar fliegen, um die Orientierung nicht zu verlieren.
Es gibt Bilder, die sich für alle Zeit ins Gedächtnis einbrennen. Vermutlich ist der innere Film am Ende des eigenen Lebens aus solchen unauslöschlichen Einzelbildern zusammengesetzt. Dominiks Schwester Sandra sah an jenem 1. Januar um 14.33 Uhr so ein Bild. Es würde sie noch Jahre in ihren Alpträumen verfolgen.
Sie waren gerade im Krankenhaus Murnau angekommen, ein psychologischer Krisenbetreuer führte sie zur Anmeldung. Sie wusste, dass die Ärzte nebenan im Schockraum Dominik versorgten, aber zu jenem Zeitpunkt ahnte sie noch nicht den Ernst der Lage. Bald würden sie ihren Bruder besuchen können, im Krankenzimmer oder wer weiß, vielleicht sogar auf der Intensivstation. Er war bewusstlos gewesen, also sicher stark unterkühlt. Aber sie hatten ihn gefunden, er war jetzt in guten Händen. Auch die Mutter war optimistisch. Was sollte jetzt noch passieren? Warum dieser Krisenbetreuer?
Nur der Vater schwieg. Er hatte schon seit zehn Uhr morgens ein schlechtes Gefühl. Der Instinkt eines früheren Polizisten, der viel Unglück gesehen hat, vor allem wenn Alkohol im Spiel war.
Dann
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