Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Schneider ist abgesprochen, dass bei Geburt des Kindes am Wochenende auf der Station hinterlegt ist, dass das Kind bis zum Wochenanfang in der Klinik verbleiben soll, um dann ggf. eine Einschätzung vorzunehmen, ob Mutter und Kind nach Hause entlassen werden können.
Sollte die Mutter dann gegen ärztlichen Rat die Klinik mit dem Kind bereits am Wochenende verlassen wollen, wird die Klinik sich an den Kindernotdienst wenden und ich bitte darum, die Inobhutnahme vorzunehmen. (Kind verbleibt dann zunächst in der Klinik).
Ein Fax dieses Schreibens geht auch an die Klinik.
Mit freundlichen Grüßen
(…)
Lydia Schneiders Weg zurück in ein eigenverantwortliches Leben dauerte noch fünf Monate. Am 26. Januar 2011 erblickte ein Junge nach Kaiserschnitt das Licht der Welt. Zwei Tage später kamen sie dann zu fünft ans Wochenbett, Mitarbeiter vom Jugendamt und vom Sozialdienst des Krankenhauses. »Hilfekonferenz« war das amtliche Wort für diese Zusammenkunft, in der es um nichts Geringeres ging als um die Frage, ob eine Frau ihr Kind selbst aufziehen darf. Lydia Schneider und ihre Mutter hätten sich zunächst »ausgesprochen misstrauisch und ablehnend« verhalten, notierte die Schriftführerin. Immerhin aber erreichten die Beamten nach einer Stunde eindringlichen Gesprächs, was sie wollten: »Frau Schneider zeigte sich schließlich zur Kooperation bereit und war auch mit täglichen Besuchen mit Kontrollcharakter, Wochenende inklusive, einverstanden.«
In den kommenden Monaten half die Mutter Lydia, wo sie nur konnte. Erst wenige Wochen vor der Geburt hatten sie sich wiedergefunden, und die Mutter hatte in einem einzigen Moment viel von dem Vertrauen zurückgewonnen, das sie in Lydias Kindheit und Jugend verloren hatte. Es war passiert, als sie nach langer Zeit auf Besuch nach Berlin gekommen war, wo Lydia mittlerweile in einer eigenen Wohnung lebte.
Lydia hatte ihre Waschmaschine befüllt, und die Mutter hatte gesehen, welche Schwierigkeiten sie beim Bücken hatte: »Sag mal, du bist aber nicht schwanger?« Lydia hatte große Angst vor diesem Moment gehabt. Sie hatte ihre Schwangerschaft der Familie verschwiegen. Jetzt sah sie die ehrliche, herzliche Freude in den Augen ihrer Mutter. Sie hatten sich innig umarmt. Zusammen waren sie dann durch die Geschäfte Berlins gezogen und hatten das Kinderzimmer eingerichtet.
Nach der Geburt des Sohnes erduldete Lydia noch die Kontrollbesuche der Mitarbeiter des Jugendamtes. Sie wurden immer kürzer und seltener. Im amtlichen Abschlussbericht vom 16. März 2011 heißt es: »Nach Einschätzung der Fachkräfte gibt es zum momentanen Zeitpunkt keinerlei Bedenken bezüglich Frau Schneiders eigenständiger Versorgung ihres Sohnes. In Situationen, in denen sie unsicher ist, informiert sie sich über Medien, tauscht sich mit ihrer Mutter aus bzw. fragt die Fachkräfte nach deren Meinung. Ihre Wohnung hat Frau Schneider äußerst kindgerecht und liebevoll eingerichtet.« Die Hebamme und der Kinderarzt seien sehr zufrieden, die Besuche könnten eingestellt werden.
Am Nachmittag des 13. April 2011 besuchte ein freundlicher älterer Herr Lydia in ihrer Wohnung. Er fragte sie über ihr Leben aus und wollte wissen, wann der Berliner Mauerfall gewesen sei, wie die Bundeskanzlerin und der Berliner Bürgermeister heißen würden. Sie sollte in Wortreihen falsche Begriffe erkennen. Er legte ihr einen Kontoauszug vor und bat sie, die Kontobewegungen zu erklären und den neuen Saldo zu berechnen. Intelligenzquotient: geschätzt 112, auf Basis des Tests. Gesamturteil: befähigt zur selbständigen Lebensführung.
Amtsgericht Wedding
Beschluss (…) Datum:
24. 6. 2011
In dem Betreuungsverfahren für
Frau Lydia Schneider, geboren am (…)
hat das Amtsgericht Wedding – Betreuungsgericht – am 24. 06. 2011 durch die Richterin am Amtsgericht J(…) beschlossen:
Die Betreuung wird aufgehoben.
Harald Prüß nennt Lydia Schneider seine »Indexpatientin« – diejenige, die ihm den Blick eröffnet habe für das Phänomen der Autoimmun-Gehirnerkrankungen, das er mittlerweile seit bald vier Jahren erforscht. Die Anti-NMDA-Enzephalitis ist die häufigste Form, aber mittlerweile sind 15 weitere Antikörper bekannt, die das Gehirn angreifen. Alle paar Monate wird ein weiterer entdeckt. Im Laufe der vergangenen Jahre hat Prüß allein 80 Fälle gesammelt, dabei wähnt er sich erst an der Spitze eines Eisbergs.
Autoimmun-Gehirnentzündungen sind schillernde Krankheitsbilder. Je nachdem, wo im
Weitere Kostenlose Bücher