Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
auf. Alle waren sie in den Dörfern dort unten im Tal groß geworden, deren nahe Lichter in dieser Nacht durch die wirbelnden Schneeflocken nur zu erahnen waren. Viele hatten noch vorletztes Jahr die Hauptschule im Dorf besucht, nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt. Jetzt steckten sie in Ausbildungen zum Heizungsinstallateur, Werkzeugmacher, Fischwirt und trafen sich an jedem Mittwoch zum Stammtisch. Ihre Freundschaft würde ein Leben halten, daran glaubten sie fest.
Dominik hatte noch bis elf Uhr nachts im Gasthof zur Post gekellnert. Dort holte ihn sein Sandkastenfreund Manfred ab, und sie waren querfeldein über die Skipiste aufgestiegen. Nur ein kurzer Weg, im Sommer würde man vielleicht eine Viertelstunde brauchen. Aber an manchen Stellen wateten sie bis zur Hüfte im Schnee. Der Schweiß stand ihnen auf der Stirn, als sie oben ankamen, gerade noch rechtzeitig für das Feuerwerk.
Dominik war einer, den alle mochten. Etwas spät mit der Pubertät, in seinen weichen Gesichtszügen war mehr das Kind zu ahnen, das er einmal war, weniger der Mann, der er bald sein würde. Er achtete auf sein Äußeres, das Haar mit den blondierten Strähnen war immer aufwendig gegelt, am liebsten trug er eine zünftige Lederhose mit Latz und Wolljacke. Für Mädchen interessierte er sich wenig, weshalb seine Freunde ihn gerne hochnahmen. Aber er war ein Macher, geboren mit zwei rechten Händen, künstlerisch begabt. Jedem Stammtischkumpan hatte er einen Maßkrug mit eingraviertem Namen und persönlichem Symbolbild geschenkt, die Technik hatte er sich selbst beigebracht. Er kletterte, liebte sein Motorrad, eine 125er Geländemaschine, schraubte an den Rollern seiner Freunde.
Er schlug gerne über die Stränge. Der Polizei war er bekannt, sie hatten ihn schon öfter erwischt, wenn er zu schnell fuhr oder zu viel getrunken hatte. Seinen Führerschein hatte er abgeben müssen, kurz nachdem er die Prüfung bestanden hatte, und beim Ableisten der Sozialstunden im Altersheim brachte er seine Vorgesetzten zum Lachen, als er fragte, ob er nicht gleich vorarbeiten dürfe, der nächste Gesetzeskonflikt komme bestimmt.
Das anbrechende Jahr würde sein bestes werden, mag Dominik gedacht oder gesagt haben, als er um Mitternacht Arm in Arm mit seinem besten Freund dastand und ins Tal blickte, wo die Raketen hochstiegen und zu bunten Kugeln zerstoben. Im Mai würde er die Prüfung zum Bierbrauer ablegen, dem Beruf, der auch seine Berufung war – schon als Kind hatte er daheim im Keller Bierflaschen mit selbstgestalteten Etiketten beklebt. Im Juli würde er das 18. Lebensjahr vollenden und sich eine große Maschine kaufen.
An die Stunden bis zum frühen Morgen hatten die Freunde später, als die Polizei sie befragte, nur noch eine unscharfe Erinnerung. Der viele Alkohol vernebelte ihr Gedächtnis, aber sie waren sicher, Dominik hatte mit niemandem Streit. Auch an eine unglückliche Liebesgeschichte wollte sich niemand erinnern – es gab nichts, was angekündigt oder gar erklärt hätte, was geschah.
Irgendwann zwischen fünf und sechs Uhr morgens, als sich das letzte Grüppchen auf den Heimweg machte, war er einfach nicht mehr da. Niemand dachte sich etwas dabei, viele hatten die Party irgendwann leise verlassen.
Alfred Ziegler war einer der Ersten, die am Neujahrsmorgen im Auto unterwegs waren. Er holte zwei Dörfer weiter bei der Großbäckerei Brot und Semmeln für seinen Lebensmittelladen, der um sieben Uhr öffnen sollte. Es fiel kaum noch Schnee, der dunkle Himmel war wolkenverhangen und sternenlos, vom nahen Kochelsee zogen Nebelschwaden über die leeren Straßen, an denen sich die Schneehaufen auftürmten. Gelegentlich streifte das Scheinwerferlicht umgekippte Sektflaschen und Silvesterkracherhülsen. Der Tag würde grau werden, dachte Ziegler.
Um Viertel vor sechs klingelte sein Handy. Dominik: »Holst mich ab, Papa? Ich bin nachher in Ort und warte da auf dich.«
»Gut, lass mich erst die Sachen zum Laden bringen, dann komm ich«, sagte der Vater. Später würde ihn die Frage quälen, wo Dominik wohl gewesen sein mochte, als er angerufen hatte. Auf jeden Fall musste er noch geglaubt haben, er habe alles unter Kontrolle, denn auch sein Sandkastenfreund Manfred erhielt einen Anruf. »Ich sehe Ort schon vor mir, bin gleich da«, sagte Dominik.
Doch die nahen Lichter der Straßenbeleuchtung, die er gesehen haben mochte, gehörten nicht zur Ortschaft Ort, er war woanders, wie die Polizei später rekonstruierte. Eine halbe
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