Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
für ästhetische Ersatzteile in ganz Deutschland gefragt. Er hatte Gül schon zweimal in Düsseldorf gesehen, bevor sie zu ihm nach Homburg an der Saar kam, damit er ihr vor Ort einen Augenhöhlen-Ersatz und ein künstliches Ohr herstellen konnte. Das erste Mal hatte Reinert ihn hinzugerufen, als die Infektion noch in vollem Gange war. Schilling, gelernter Zahntechniker, war damals noch nicht lange in der Epithetik, und die schweren Schicksale der Patienten gingen ihm sehr nahe – das des türkischen Mädchens besonders, weil es so hilflos gewirkt hatte, allein mit dieser furchtbar entstellenden Krankheit in einem fremden Land. Eindreiviertel Jahre später, im Sommer 1994, hatte Schilling neben Reinert im Operationssaal gestanden, als der ihr Schrauben mit Magnetköpfen in die leere Augenhöhle und neben den Gehörgang implantiert hatte – die Einrast-Vorrichtungen für die künftigen Ersatzteile. Es war gut, dass er als Epithetiker bei der Operation dabei war, denn er konnte besser als der Chirurg die ideale Lokalisation für die Schrauben am Kopf bestimmen.
Jetzt war Gül 18 Jahre alt, sie würde ihre Epithesen nicht mehr innerhalb weniger Monate »auswachsen«. Schilling war überrascht, wie gut sie mittlerweile Deutsch sprach. Ihr Cousin war mitgekommen, aber seine Übersetzungsarbeit war nicht mehr nötig. Sie hatte gerade ihren Hauptschulabschluss bestanden, erzählte sie ihm.
Eine Epithese anzufertigen ist ein komplizierter Prozess, der eine gute Woche braucht und die enge Zusammenarbeit mit dem Patienten erfordert. Zuerst muss ein Abdruck des Gesichtsdefekts aus Silikon gefertigt werden. Dann baut der Epithetiker aus Wachs ein Modell, das er dem Patienten beim zweiten Besuch einsetzt. Dann beginnt die Feinarbeit der Modellierung, zusammen mit dem Patienten, der sich immer wieder im Spiegel betrachten muss – er wird mit seinem künftigen Gesicht zwei bis drei Jahre leben müssen, so lange hält eine Epithese. Viel Taktgefühl ist erforderlich, denn die Patienten haben oft schwerste Traumata erlitten und ertragen den eigenen Anblick nur schlecht. Epithetik, das ist immer auch ein bisschen Psychotherapie, nur dass die meisten Epithetiker nicht beruflich darauf vorbereitet sind. Sie sind gelernte Zahntechniker, so wie Schilling. Ein festes Ausbildungsprogramm gibt es nicht, Epithetik ist Kunst und erfordert Menschen mit hoher künstlerischer Begabung, die gerne mit Menschen arbeiten. Oft gehen sie mit ihren Patienten jahrzehntelange Bindungen ein.
Die endgültige Epithese wird aus Silikon gegossen und mit Erdpigmenten in Silikonöl genau an den Farbton der Haut angepasst. Beigemischte kleinste rote Flöckchen aus Textilmaterial sind das i-Tüpfelchen jeder Epithese, sie erzeugen den Eindruck lebendiger Haut, die von feinsten roten Äderchen durchzogen ist, wenn man sie von nah betrachtet.
Gül hatte keine Angst vor ihrem Spiegelbild, so wie viele andere Patienten Schillings. Das war gut. Doch sie sagte nur wenig, als er die Anpassung an ihre Augenhöhle und Hautfarbe vornahm, es war schwer, sie aus der Reserve zu locken. Bis zuletzt wusste er nicht, ob er es schaffen würde, Gül zufriedenzustellen.
Die Anpassung ist ständiges Verhandeln, das langwierige Finden eines Kompromisses. Der Epithetiker versucht, Form und Farbe an das anzugleichen, was er im Gesicht vorfindet. Doch die Patienten tragen oft Komplexe mit sich herum, die viel älter sind als die Entstellung. Sie fanden schon immer ihre Augen zu klein oder ihre Haut zu farblos. Manche versuchen, dem Epithetiker ein lange gehegtes Wunschbild von sich selbst aufzuzwingen, das nur wenig mit der Realität zu tun hat. Öfter passiert es, dass das Ersatzstück objektiv betrachtet perfekt ist, doch die Menschen können sich nicht daran gewöhnen, finden, dass es sie zu alt mache oder hässlich – dann war die ganze Arbeit umsonst.
Fast 5000 Euro kosteten die beiden Ersatzteile für Gül. Deutschland ist eines der ganz wenigen Länder weltweit, in dem Krankenkassen diese Kosten übernehmen – der »Anspruch auf Körperteilersatzstücke« ist im Sozialgesetzbuch SGB V festgeschrieben.
Am 30. September 1994 montierte Schilling ihr die fertigen Ersatzteile an, das künstliche linke Ohr sowie eine komplette Augenpartie inklusive Ober- und Unterlid, Augenbraue, Wimpern und Glasauge – Letzteres außer Haus gefertigt von einem Okularisten, einem Glasaugenkünstler. Gül konnte nicht richtig lächeln, nur der rechte Mundwinkel verzog sich nach
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