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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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in ihren Augen vor allem auszeichnete: »Freundlichkeit« und »Gerechtigkeit«.

    Amphotericin B besiegte Güls Krankheit. Die Entzündung klang ab, neue schwarze Stellen bildeten sich nicht mehr auf der Haut. Narbengewebe verschloss das Loch in der Kieferhöhle. Doch die Dauerfolgen der Infektion traten jetzt zutage, und sie waren gravierend. Güls Auge konnte nicht gerettet werden. Es war ein schlimmer Moment für sie, als sie erfuhr, dass es entfernt werden musste. »Enukleation« – Entkernung der Augenhöhle.
    Ihre Gesichtsknochen waren komplett erhalten geblieben, ein großes Glück. Doch zwischen Jochbein und Mund spannte sich die Haut bretthart. Das Unterhautfettgewebe, das die Konturen eines Gesichts weich macht, war nicht mehr vorhanden. Über dem Loch in der Wange trug sie ein Pflaster, das sie täglich wechseln musste. Gül ertrug ihren Anblick im Spiegel – sie war froh, dass sie keine Schmerzen mehr hatte.

    Die Entstellung des Gesichts ist kein eigenes Krankheitsbild, sondern hat eine Vielzahl von Ursachen. Nachzulesen sind sie in den großen Fachbüchern der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Jedoch fehlt dort ein Kapitel, das sich den ungeheuren psychischen Folgen der Entstellung widmet, sie also als etwas Eigenes beschreibt. Dabei haben die Entstellungen eine Gemeinsamkeit: Anders als die meisten anderen psychischen Konflikte und traumatisierenden Erfahrungen lassen sie sich nicht verdrängen. Ein Blick in den Spiegel genügt, schon ist die Erinnerung an das auslösende Trauma wieder da. In Deutschland gibt es weder Zahlen noch Fakten oder Forschung über Menschen mit entstellten Gesichtern. Um eine Ahnung von der gesellschaftlichen Dimension zu bekommen, genügt jedoch der Blick in ein Nachbarland. Der britischen Selbsthilfeorganisation Changing Faces zufolge leidet dort jeder einhundertelfte britische Bürger an einer mehr oder minder schweren Entstellung des Gesichts. Viele Betroffene ziehen sich ganz aus der Gesellschaft zurück, leiden unter schweren Depressionen, nicht wenige begehen Selbstmord. In Deutschland gibt es keine große Selbsthilfeorganisation für Entstellte, auch keine spezialisierten Psychotherapeuten – jeder muss schauen, wie er mit seinem neuen Gesicht im Alltag zurechtkommt.

    Nach sechs Monaten im Krankenhaus wurde Gül zu ihrer Familie nach Hause entlassen, vorerst, denn der Arzt mit den sanften Augen, Siegmar Reinert, war bereits dabei, die chirurgischen Eingriffe zu planen, um ihr Gesicht zu rekonstruieren. Sie lebte bei ihrer Familie in Neuss, kümmerte sich um ihren neugeborenen Neffen und den Haushalt. Ihre Tante meldete sie bei einer Schule für Einwanderer an, und bald absolvierte Gül zusammen mit jungen Iranern, Türken und Serben eine Übergangsklasse für die Hauptschule. Sie war still und in sich gekehrt, ging nach der Schule sofort nach Hause, machte jedoch rasante sprachliche Fortschritte. Dreimal in der Woche fuhr sie allein mit dem Bus durch die Stadt, um sich in der Ambulanz der Uniklinik Infusionen verabreichen zu lassen.
    Sie sah den Herbst kommen, den sie aus der Türkei nicht kannte – die Blätter färbten sich rot, fielen von den Bäumen und säumten bald die Wege in den Parks mit einem weichen Teppich, der raschelte, wenn sie darauf trat. Es regnete oft, im kalten Wind lagen Düfte, die sie nicht kannte.
    Zu jener Zeit musste sie wieder ins Krankenhaus. Reinert erklärte ihr, wie er ihre neue Wange formen würde. Die Haut dafür würde er vom Hals nehmen. Doch davor musste sie gedehnt werden, damit so wenig Gewebe wie möglich geopfert würde. Er implantierte Gül unter der Haut einen Kunststoffballon, den »Hautexpander«. Fortan spritze er ihr jeden Tag eine kleine Menge Salzlösung hinein, und nach fünf Wochen war eine Beule an ihrem Hals herangewachsen, die so groß war wie ein Tennisball. Aus dieser Haut formte Reinert ihr im Dezember 1992 eine neue Wange.
    Gül nahm wieder am normalen Familienleben teil. Wenn sie auf ein Hochzeitsfest mitmusste, trug sie Kopftuch und Verband. Es existieren kaum Fotos, auf denen sie dabei ist.
»Epithese (…) f: (engl.) epithesis; individuell modelliertes Ersatzstück aus Kunststoff, Silikonen, Gelatine u.a. zur Deckung von Oberflächendefekten, insbes. im Gesicht (Auge, Nase, Ohr); wird i.d.R. an den Körper angelegt, aufgeklebt, durch Implantat festgehalten od. mit intraoraler Defektprothese verbunden. Vgl. Prothese«
(aus: Pschyrembel, 260. Auflage 2004)
    Norbert Schilling war als Fachmann

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