Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
beiläufig: »Ist eigentlich das türkische Mädchen noch in Ihrer Betreuung, das wir damals in Düsseldorf behandelt haben?«
Reinert war betroffen, als Gül gute drei Monate später vor ihm saß. Die Eingriffe seines Fachkollegen waren sicher keine Kunstfehler, doch das Langzeitergebnis war missglückt. Der Rippenknorpel, mit dem Güls Wange aufgefüllt war, wölbte sich unter dem Auge wulstförmig hervor, die papierdünne Haut darüber war überdehnt und schimmerte weißlich, das Untergesicht war hohlwangig. Darüber hinaus hatte die junge Frau mittlerweile alle Backenzähne links eingebüßt, sie hatten sich schon damals infolge der Infektion gelockert. Ober- und Unterkiefer waren durch den jahrelangen Nichtgebrauch so geschrumpft, dass Zahnimplantate keinen Halt finden würden. Er würde versuchen, ihr einen neuen Halteapparat zu bauen, das Knochenmaterial dafür müsste er aus ihrem Beckenkamm entnehmen. Er war sich unsicher, ob es funktionieren würde.
»Ich habe ein paar neue Ideen«, sagte er.
Für kurze Zeit sah es so aus, als könnte ihr Projekt an den Fahrtkosten scheitern. Gül lebte vom gerade eingeführten Arbeitslosengeld II und konnte die vielen anstehenden Fahrten keinesfalls aus ihren mageren Einkünften bezahlen.
Es kostete ihn viel Mühe und lange Briefe, Güls Krankenkasse zu überzeugen, dass all die Therapien in Tübingen gemacht werden mussten und nicht in ihrem Wohnort Köln. Er argumentierte, der Operateur müsse mit den speziellen anatomischen Gegebenheiten sehr vertraut sein, um die Operationen zu planen und intraoperativ die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Im Januar 2005 bekam Gül eine neue Wange.
Im Dezember 2005 entfernte Reinert wucherndes Narbengewebe und unschöne rote Äderchen an Stirn, Wange und Schulterblatt.
In den Jahren 2008 bis 2010 rekonstruierte er Güls Ober- und Unterkiefer.
Im Januar 2010 waren sie so weit, dass Zahnimplantate darin Halt finden könnten.
Am 17. Juni 2010 verließ Gül die Uniklinik Tübingen mit sieben neuen Backenzähnen und konnte erstmals seit vielen Jahren wieder normal essen.
Im Sommer 2011 lernte sie in einer Rehabilitationsklinik einen etwas älteren deutschen Handwerkermeister kennen und verliebte sich. Er litt an einem gutartigen Hirntumor, hatte drei Kinder und war gerade im Begriff, sich von seiner Frau zu trennen, mit der ihn ein ganzes Leben verband. Die Beziehung durchlief Höhen und Tiefen. Als Gül schwanger wurde, flehte er sie an abzutreiben – er hatte Angst, das Kind nicht mehr aufwachsen zu sehen. Sie erlebte einen Spontanabort, fiel in tiefe Depressionen. Doch auch als es ganz schlimm war, wusste sie, dass sie niemals den gleichen Weg gehen würde wie ihre Mutter.
Gül ist heute 39 Jahre alt. Sie lebt auf 48 Quadratmetern in einer Dachgeschosswohnung im Randgebiet von Köln. Jede Woche einmal besucht sie ihre Psychotherapeutin, mit der sie immer noch viel über ihre Kindheit spricht. Die Zerstörungen ihres Gesicht sieht nur, wer genau hinschaut. Gül versteckt sich nicht vor der Welt, erträgt stoisch die Blicke der anderen in der Bahn und auf den Straßen. Manchmal sagt sie nichts, manchmal fragt sie voller Wut im Bauch: »Gibt’s was zu glotzen?« Ein Kopftuch würde sie nie tragen, anders als ihre Tante, ihre Cousine und ihre Schwägerin, die Frau ihres großen Cousins, die alle tief religiös sind. Mit Kopftuch wäre es nicht möglich, die Haare über die linke Gesichtshälfte fallen zu lassen.
Den älteren Handwerker, den Güls Cousine Necla gerne »den Kurschatten« nennt, trifft sie bis heute gelegentlich. Auch wenn es manchmal schwierig ist, hält Gül Kontakt zu ihrer Familie, und die Fotos ihrer fünf Nichten und Neffen, die mittlerweile schon in der Pubertät oder erwachsen sind, schmücken die Regale in Flur und Wohnzimmer. Zu dem Neffen, um den sie sich im Säuglingsalter viel gekümmert hat, hat sie Kontakt.
Immer noch träumt sie davon, eines Tages mit dem richtigen Mann an ihrer Seite selbst Mutterglück zu erleben.
Für Siegmar Reinert wird Gül immer eine einzigartige Patientin bleiben. Es gibt nur sehr wenige, die er so lange auf ihrem Weg begleitet hat – viele mit ähnlich ausgedehnten Entstellungen starben irgendwann an ihrer Grundkrankheit oder schlicht am Alter, denn die Krebserkrankungen des Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereichs treten typischerweise im höheren Lebensalter auf. An Gül konnte er seine ganze Kunst anwenden und ist stolz auf das erreichte Resultat. Mit den
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