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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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Hause nehmen durften, um sie zu waschen.
    Täglich zweimal kam der Arzt mit den sanften Augen, den sie vom Aufnahmetag her kannte, und wechselte ihren Verband. Es schmerzte so, dass sie jedes Mal schrie wie am Spieß. Er sagte, was Ärzte sagen: dass sie nur noch kurz die Zähne zusammenbeißen müsse, dass es gleich vorbei sei, dass sie mehr schmerzstillende Medikamente bekommen würde, aber seine Worte kamen nicht an, Gül verstand nur Türkisch.
    Einmal sagte der Arzt zu Necla: »Wenn Gül in Deutschland bleiben möchte, muss sie Deutsch lernen.« Und Gül begann, sich die fremde Sprache zu erschließen. Sie deutete auf Gegenstände, und die Schwestern sagten ihr den deutschen Namen: Spritze. Infusion. Tablette. Bettpfanne. Wenn ihr Cousin oder Necla zu Besuch waren, fragte sie nach den Wörtern, die sie brauchte, um sich verständlich zu machen. Kalt, heiß, Schmerzen, Durst.

    In den ersten Wochen reinigten Reinert und seine Kollegen die Wunden, schnitten schwarze Stellen weg, trugen desinfizierende Lösungen auf. Die ersten Laborergebnisse wiesen in keine eindeutige Richtung. Sie fanden Bakterien, jedoch keinen Keim, von dem bekannt wäre, dass er so schwere Hauterkrankungen auslösen könnte. Auf bloßen Verdacht hin, nur um etwas zu unternehmen, gaben sie Gül Infusionen mit hochpotenten Antibiotika, die gegen Bakterien wirksam waren. Ohne jeden Erfolg.
    Der Pathologe untersuchte die Gewebeproben unter dem Mikroskop, die Reinert an verschiedenen Stellen in ihrem Gesicht gewonnen hatte. Kein Anhaltspunkt für Krebs, aber etwas anderes fiel ihm auf: »Hyphen« – also fadenförmige Zellen eines unbekannten Pilzes, die sich verzweigten wie die Äste von Bäumen. Reinert informierte die Mikrobiologen, die versuchten, die Pilze auf einem speziell dafür geeigneten Nährboden zu vermehren – ohne Erfolg. Deshalb konnten sie auch nicht im Labor testen, welches Antimykotikum – Antipilzmittel – wirksam sein könnte.
    Doch es war keine Zeit zu verlieren. Reinert entschied, wieder auf Verdacht, ein Mittel zu geben, das ein breites Spektrum von Pilzen bekämpfte. Während Gül schon die ersten Infusionen bekam, gingen Gewebeproben zu einem auf Pilzerkrankungen spezialisierten Labor in den Niederlanden. In den folgenden Tagen beobachtete er bei den täglichen Verbandswechseln aufmerksam, ob der Gewebefraß sich unter der neuen Therapie fortsetzte, und nach einer Woche war er sich sicher: neue schwarze Stellen. Das Antimykotikum war wirkungslos. Also doch kein Pilz?

    Sechs Reiche von Lebewesen bevölkern die Erde. Biologen unterscheiden Bakterien, Tiere, Pflanzen, Protozoen, Chromista und Pilze. Letztere wurden früher wegen ihrer sesshaften Lebensweise den Pflanzen zugeordnet, aber das war ein Fehlschluss – auch Korallen leben sesshaft wie Pflanzen und gehören trotzdem zum Tierreich. Pilze stehen in Bezug auf Stoffwechsel und Genetik den Tieren deutlich näher als Pflanzen. Sie können aus einer einzigen, mikroskopisch kleinen Zelle bestehen, zum Beispiel Hefepilze, oder sie bilden komplexe, vielzellige Strukturen wie der Champignon. Gemein sind ihnen bestimmte Merkmale des Zellaufbaus und außerdem ihre Art der Vermehrung: zum einen durch Ausbreitung – in der Erde, zwischen den Fußzehen oder sonstwo im Körper. Zum anderen durch Sporen, die durch die Luft fliegen.
    Der Mensch besitzt zehnmal mehr Mikroben – Pilze, Bakterien, Protozoen – im Körper als eigene Körperzellen. Zusammengenommen wiegen diese Fremdlebewesen im Schnitt 1,5 Kilogramm. Erst seit wenigen Jahren begreifen die Wissenschaftler die gewaltige Bedeutung der Mikroorganismen, ja manche beschreiben sie gar als eigenes, neu entdecktes »Organ«. In ihrer Gesamtheit werden all diese Lebewesen »Mikrobiom« genannt und im internationalen Human Microbiome Project intensiv beforscht. Klar ist heute, dass sie im Körper gute und böse Rollen spielen – die einen produzieren Stoffe, ohne die Menschen nicht lebensfähig sind, andere verursachen Krankheiten, die zum Tode führen können.
    Die Natur hat die Mikroben im Menschen so verteilt, dass sie zum Zeitpunkt der Geburt überwiegend nützlich sind. Doch sie leben in einem Gleichgewicht, das in seiner Sensibilität vergleichbar ist mit dem Ökosystem Erde. Gewinnt ein Mikroorganismus zahlenmäßig die Überhand oder kommt ein fremder Eindringling hinzu, kann das Folgen für den ganzen Körper haben.
    Viele Mikroben sind harmlos, solange das Immunsystem des Menschen intakt ist,

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