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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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heute zur Verfügung stehenden Techniken würde es schneller gehen, aber nicht besser, findet er.
    24 Jahre nach Auftreten des ersten roten Flecks in ihrem Gesicht und drei Jahre nach ihrer letzten OP hat Gül heute alle Voraussetzungen für ein weitgehend »normales« Leben, findet Reinert. Medizinisch bleibt nicht mehr viel zu tun – vielleicht wird er ihr irgendwann noch einen Goretex-Zügel vom Jochbein zum Mund implantieren, denn Güls linker Mundwinkel hat sich durch die gespannte Haut des Halses etwas nach unten gezogen. Eine Asymmetrie, die man relativ problemlos beseitigen könnte, aber Gül hat erst mal genug Operationen hinter sich, findet er.
    Gül ist eine von ganz wenigen, die seine Privatnummer besitzen. Irgendwann in der Tübinger Zeit hat sie sich versprochen, ihn aus Versehen geduzt – er lächelte sie an und sagte, einer spontanen Eingebung folgend: »Belassen wir es doch dabei, ich heiße Siegmar.« Sie telefonieren in regelmäßigen Abständen.
    Eine Frage beschäftigt Reinert bis heute: Warum erkrankte Gül aus völliger Gesundheit heraus an dieser rätselhaften Pilzinfektion, die bis heute kaum ein Arzt kennt? Nachdem er mehr über ihr Leben erfahren hat, glaubt er, dass ihre Verlassenheit in der Kindheit sicher eine große Rolle spielte. Doch viele Kinder erleben Derartiges und bleiben dabei gesund. Eine schlüssige Erklärung wird es wohl nie geben.

Bauchgefühl
    D ie Krankheit kam am zweiten Urlaubstag. Sie kam, als Helmke Sears sich so glücklich fühlte wie selten zuvor in ihrem Leben. Urlaub auf Elba. Sie hatten ein Hauszelt auf einem Campingplatz am Strand gemietet. Am Nachmittag suchten die beiden Kinder Muscheln, Helmke blätterte in Zeitschriften, ihr Ehemann Scott lag im Sonnenstuhl neben ihr, die Augen geschlossen. Welche Ruhe er ausstrahlte, dachte sie.
    Sie hatten sich sechs Jahre zuvor auf dem Flughafen in San Francisco kennengelernt. Sie war Kundenberaterin in einer Werbeagentur und auf Geschäftsreise, er arbeitete dort als Banker und wohnte auf einem großen Segelboot im Hafen. Scott hatte breite Schultern, samtene braune Augen, lachte viel und liebte seine Harley-Davidson. Sie hatte sich sofort verliebt, er auch. Damals war Helmke schwanger gewesen, doch sie hatte bald die bröckelnde Beziehung zum werdenden Vater beendet und war noch im gleichen Herbst zu Scott in die USA gezogen. Dort kam ihre Tochter Jessica zur Welt, zwei Jahre später ihr gemeinsamer Sohn Julian. Scott machte in seiner Liebe nie einen Unterschied zwischen den beiden Kindern. Als sie das Heimweh packte, hatte sie ihn gefragt, ob er sich auch ein Leben in Deutschland vorstellen könnte. Er hatte alles für sie aufgegeben. Jetzt lebten sie glücklich in einer Vierzimmerwohnung im Münchner Umland.
    An jenem Abend auf Elba gingen sie im Dorf essen. Helmke vertilgte eine große Portion Spaghetti mit Muscheln, die Kinder eine Riesenpizza. Danach blickten sie bei einem Glas Rotwein aufs Meer, auf den Wellen spiegelte sich das Mondlicht.
    Die Bauchschmerzen überfielen sie, als Scott schlief. Am Morgen lag sie zusammengekrümmt auf dem Feldbett. Wenn sie sich aufrichtete, hatte sie das Gefühl, Drahtseile würden sich durch ihre Gedärme spannen. Scott kaufte Schmerztabletten, massierte ihren Bauch, es half nichts. Noch glaubte sie, es seien die Muscheln, doch nach einer weiteren schlaflosen Nacht suchten sie das einzige Krankenhaus der Insel auf.
    Der Arzt in der Notaufnahme trat hinter sie, versetzte ihr einen Stoß in die Lenden, dann übersetzte eine Krankenschwester: »Sie haben einen Nierenstein, wir müssen Sie heute noch operieren.« Sie blickte auf seine fettigen Haare, die ihm ins Gesicht hingen, auf seinen Schreibtisch, wo sich Papierstapel türmten und der Aschenbecher überquoll, und entschied, keine Sekunde länger zu bleiben.
    Scott legte die Rückenlehne des Beifahrersitzes im geliehenen Mercedes-Geländewagen um und richtete ihr mit Kissen und Decken ein Bett. Kein Wort der Enttäuschung kam über seine Lippen.
    In Deutschland dauerte ihre Odyssee noch weitere vier Wochen. Die Ärzte tippten auf Menstruationsbeschwerden, Reizdarm und Verstopfung. Obwohl Helmke nicht daran glaubte, nahm sie es als Freibrief, wieder arbeiten zu gehen. Gerade hatte sie ihre eigene Agentur gegründet, Kredite waren abzubezahlen, ihre Angestellten erwarteten ihr Gehalt. Sie hatten ein Haus am See gemietet, der Umzug stand unmittelbar bevor. Eine Auszeit konnte sie sich nicht leisten.
    Sie kapitulierte am

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