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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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oben, die linke Gesichtshälfte blieb starr. Aber Schilling hätte schwören können, dass sie über das ganze Gesicht gestrahlt hätte, wenn es ihr möglich gewesen wäre. Die 267. Epithese seines Berufslebens war soeben fertig geworden, und er erlebte sein persönliches Glücksmoment. Wegen dieser großen Augenblicke, in denen seine Patienten ihr neues Gesicht erstmals sahen, findet Schilling bis heute, dass sein Beruf der schönste auf der Welt ist.

    Als Siegmar Reinert im Februar 1995 seine Stelle an der Uniklinik Düsseldorf aufgab, fühlte sich Gül verlassen. Sie hatte ihr ganzes Vertrauen auf ihn konzentriert, wusste nicht, wohin sie sich nun wenden sollte. Ein Jahr später reiste sie nach Bochum, wo er mittlerweile als stellvertretender Klinikdirektor arbeitete.
    Sie trug die schwarzen Haare schulterlang, so dass sie die linke Gesichtshälfte bedeckten. Ihre künstliche Augenpartie fiel unter dem Haarvorhang kaum auf, auf den ersten Blick hätte man meinen können, das Auge blicke nur starr, sei möglicherweise gelähmt. Ihr eigentliches Problem war die Wangenpartie, eingefallen und hohl. Sie hoffte auf eine neue Operation.
    Doch Reinert sah Probleme. Er rechnete damit, dass sich Güls Physiognomie in den kommenden Jahren aufgrund ihrer Jugend noch ändern würde.
    Außerdem waren Weichteiltransplantationen im Gesicht damals noch ein sehr schwieriges Unterfangen. Zwar war es technisch möglich, Unterhautfettgewebe vom Bauch oder Gesäß in die Wangen zu transplantieren, jedoch resorbierten die Immunzellen es dort innerhalb von ein bis zwei Jahren. Gerade etablierten sich revolutionäre neue Operationstechniken, die »Mikrochirurgie« war auf dem Vormarsch. Bald würde es möglich sein, Unterhautfettgewebe mitsamt zugehörigen Adern zu entnehmen und am Zielort unter dem Mikroskop wieder anzuschließen, sodass von Anfang an eine ausreichende Blutversorgung gewährt war. Doch die Technik war jung und die Herausforderungen an den Operateur immens. Es gab offene Fragen: Wie viel Gewebe würde er brauchen, um den ausgedehnten Defekt aufzufüllen – musste er mehr berechnen als nach Vermessungen nötig, weil ein Teil des Gewebes noch resorbiert würde? Den Hautlappen mit Gefäßstiel müsste Reinert Gül aus dem Rücken entnehmen, sie dazu also in Seiten- oder Bauchlage positionieren – so wäre es nicht möglich, gleichzeitig Entnahmestelle und Wangendefekt im Blick zu behalten und den Haut-Gewebe-Lappen maßzuschneidern.
    Reinert sammelte gerade die ersten Erfahrungen mit den neuen Techniken und scheute sich vor einem so großen Eingriff, ohne dass eine medizinische Notwendigkeit dafür bestand. Er sagte: »Ich bitte Sie, sich noch zu gedulden. In ein paar Jahren kann ich vielleicht mehr für Sie tun.«
    Gül brach den Kontakt zu ihm ab und begab sich in die Hände eines plastischen Chirurgen.

    Neun Jahre herrschte Schweigen zwischen ihnen. Gül machte nacheinander Ausbildungen zur Kindergärtnerin und zur Köchin, beide brach sie ab. Sie verliebte sich in einen jungen Türken, doch seine Mutter war gegen die Beziehung – wegen ihres Aussehens. Nach einem Jahr beugte er sich ihrem Willen, stand nicht zu Gül. Ein Mann, der ihr bislang nur als guter Freund zur Seite gestanden hatte, wurde ihr neuer Lebenspartner, sie wollten heiraten. Doch als er in die Türkei zurückmusste, begannen die Probleme, auch diese Beziehung zerbrach. Schließlich vermittelte ihr die Familie einen heiratswilligen, entfernt verwandten Cousin, der in der Türkei lebte. Er passte nicht zu ihr, das spürte sie sofort. Niemand zwang sie. Vielleicht käme die Liebe ja noch, dachte sie. Im Mai 2004 heirateten sie. Doch Gül ahnte schon in den ersten Ehetagen den wahrscheinlich einzigen Grund für seine Einwilligung in die Heirat: Seit 1997 hatte sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Deutschland, die auch für Ehegatten galt. Nach einem Monat kaufte sie ihm ein Rückflugticket nach Ankara. Er widersprach nicht. Sie sahen sich nie wieder.

    Zu dieser Zeit war Siegmar Reinert zum Chefarzt und Lehrstuhlinhaber der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie an der Uniklinik Tübingen avanciert. Er hatte viel Erfahrung in der Mikrochirurgie gesammelt. In den vergangenen Jahren war ihm Gül, die er 1995 weggeschickt hatte, immer wieder in Erinnerung gekommen. Nun wäre er so weit, ihr ihren damaligen Wunsch zu erfüllen. An einem Tag im Frühjahr 2004 telefonierte er mit dem Epithetiker Norbert Schilling und fragte, betont

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