Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
ausgerechnet er diese stigmatisierende Krankheit zu seinem Forschungsgebiet machen. Er sollte sich täuschen.
Tim Brown war so etwas wie ein Gegenentwurf zu Hütter. Er begann seinen Weg geradlinig, Wirtschaftsstudium in Seattle, Karriere als Banker. Als er 24 Jahre alt war, begann ihn sein Beruf zu langweilen, in ihm erwachte ein unersättlicher Hunger nach neuen Erfahrungen. Im Sommer 1991 packte er einen einzigen Koffer mit seinen Habseligkeiten und flog von Seattle nach Barcelona, weltbekannt für das ausschweifende Nachtleben und seine Schwulenszene. Tim, jungenhafter schmaler Körper, umschwärmt von Männern, trank von diesem Leben in gierigen Zügen. Er wechselte häufig die Partner, wohnte bei ihnen und kam mit Nebenjobs als Englischlehrer und Übersetzer über die Runden.
Er habe immer auf Kondomen bestanden, erklärte er später den Ärzten. Ein breitschultriger Sicherheitsbeamter der Stadtverwaltung aber habe ihn leichtsinnig werden lassen. Er kam in ihm. Tim spürte es, war wütend, aber da war es zu spät. Seither hatte er ein ungutes Gefühl, und im Sommer 1995 erhielt er die späte Bestätigung: HIV-Test positiv. Da lebte er schon in Berlin. Anfangs saß der Schock tief, er glaubte, nur noch zwei Jahre zu haben. Doch zu jener Zeit kamen neue Kombinationsmedikamente auf den Markt. Aids verlor seinen Schrecken, wurde aus der Sicht vieler Betroffener eine chronische, aber behandelbare Erkrankung. Tim gehörte zu den Glücklichen, bei denen diese Mittel ohne ihre mitunter schweren Nebenwirkungen blieben. So gewöhnte er sich an sein Leben mit HIV, ernährte sich gesünder und trieb viel Sport. Auch die sexuellen Eskapaden fanden ein Ende, als er Matthias kennenlernte, einen geschiedenen Vater von zwei Töchtern aus den neuen Bundesländern, der erst spät im Leben seine Vorliebe für Männer entdeckt hatte. Tim fügte sich den Werten, die seinem Lebenspartner so wichtig waren: Treue und Monogamie. An Matthias’ Seite kam er zur Ruhe und fand in Deutschland etwas, das er in Amerika so nicht gekannt hatte – eine Familie. Matthias’ Töchter liebten ihn, seine Eltern und Geschwister akzeptierten ihn wie einen Schwiegersohn und Schwager.
Im Sommer 2006 war dieses neue Leben plötzlich vorbei. Es begann mit einer bleiernen Müdigkeit, die ihn morgens nach dem Aufstehen nicht verließ. Dann kamen die Schmerzen, die in Wellen durch seinen Körper rollten, mal den Kopf, dann die Gelenke, dann den Magen befielen. An einem Nachmittag brach er auf seiner Laufstrecke im Park zusammen, Matthias musste ihn holen kommen. Der Hausarzt stellte eine schwere Blutarmut fest und schickte ihn ins Krankenhaus.
Gero Hütter blickte auf den flüchtig geschriebenen Einweisungsschein. Diagnose: Verdacht auf Leukämie, HIV-Infektion bekannt seit 1996, bisher nicht ausgebrochen. Eine seltene Konstellation, dachte er. Und katastrophale Blutwerte! Sofort Knochenmarkpunktion zur Sicherung der Diagnose und zentraler Venenkatheter für die Chemotherapie. Er selbst würde das übernehmen müssen, sein Kollege Daniel Nowak war frisch auf der Station, ein junger Forschertyp, der nach dem Studium ein Jahr im Labor verbracht hatte und noch kaum Klinikerfahrung besaß.
Der Patient lag allein im Zimmer. Er wirkte zerbrechlich, zu dünn für 1,75 Meter, seine warmen braunen Augen blickten aus einem hohlwangigen Gesicht. Es war das Stigma vieler langjähriger HIV-Infizierter, eine Nebenwirkung der Kombinationstherapie. Die Medikamente lösen das Unterhautfettgewebe auf, vor allem in den Wangen. Die beiden sprachen wenig, Hütter war zu sehr damit beschäftigt, keinen Fehler zu machen. Nicht auszudenken, wenn er beim Legen des Venenkatheters die Arterie treffen würde. Das Risiko bestand immer, und dann endete alles in einem Blutbad. Er schwitzte, sein Herz pochte. Es war seine alte Furcht, sich mit HIV zu infizieren.
Tim Brown fand den jungen Arzt sofort sympathisch. Er erschien weniger blasiert als die anderen, kompetent und auf unauffällige Weise gutaussehend mit seinem kräftigen Körperbau, den nach hinten gekämmten braunen Haaren, dem festen Blick hinter einer randlosen Brille, die Tim ihm gerne mal abgenommen hätte. Bestimmt schwul, hätte er damals gewettet.
Die unglaubliche Idee kam Hütter, als er den Laborbefund sah. Es war, als hätte sein Gehirn schon nach dem ersten Blick auf den Einweisungsschein unbemerkt ein Suchprogramm gestartet. Jetzt meldete es seinen Fund: jenen Artikel, den er als Student gelesen
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