Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Operation bedeutet, was ich aushalten muss und wie schmerzhaft sie ist, hätte ich einem weiteren Leben nicht zugestimmt.«
Tagebuch Helmke Sears, Tag 10 nach dem Eingriff
Ihr zweites Leben wurde ein anderes. Es war gleichsam, als ob sie zwar in dasselbe Haus zurückkäme, das sie verlassen hatte, aber im Laufe der kommenden Jahre warf sie alle Möbel raus, riss alle Wände ein. Schließlich stellte sie fest, dass auch das nicht reichte – und ließ die Abrissbirne kommen.
Die Möbel, das waren »Freundinnen«, die keine waren. Sie lebten im Dorf, organisierten sich zu Nachbarschaftshilfen, standen Helmke nach den Operationen zur Seite, pflegten und bemitleideten sie. »Sie meinen es so gut«, schrieb sie im Tagebuch. »Aber ich spüre, dass sich hier etwas vermischt, was ich nicht will. Ich will nicht befreundet sein müssen, weil ich krank bin und sie mich versorgen. Ich habe das Gefühl, ich kann nicht mehr wählen. Sie haben längst entschieden, dass wir Freundinnen sind und bleiben.«
Die Wände, das waren Freundschaften, von denen Helmke glaubte, dass sie ewig halten würden. »Was bin ich für sie? Helmke? Oder der Krebs?« Helmke testete ihre Freundinnen aus, ging an die Grenzen, erzählte von den schrecklichen Erlebnissen, beobachtete ihre Reaktionen. »Manche sehen sich durch mich mit ihren eigenen, tiefsitzenden Ängsten konfrontiert. Am Ende habe ich sie getröstet statt umgekehrt.« Vier tiefe Freundschaften blieben. Die zu ihrer treuesten, engsten Begleiterin gehörte nicht dazu. Jahre nach der Transplantation zerstritten sie sich, es ging um ein ganz anderes Thema. In Helmkes Seele blieb eine tiefe Wunde zurück, die nie ganz verheilte.
Helmkes Haus, das war Scott. Beide kämpften in den Jahren nach der Krankheit für ihre Liebe. Seit der Lebertransplantation fühlte sie sich hässlich und verunstaltet, ihr Körper hatte sich verschlossen. Scott litt. Seit Jahren stritten sie über das Dauerthema Arbeit. Er machte sich als Handwerker selbständig, die Werkstatt brannte ab.
Scott zog in die USA, fand sofort einen Job. Weihnachten 2000, nach nur sechs Monaten, stand er wieder vor ihrer Tür, zurückverwandelt in den selbstbewussten Mann, in den sich Helmke einst verliebt hatte. Er heuerte als Vertriebsleiter in einem Unternehmen an, das 450 Kilometer entfernt lag. Er bekam den Job, plötzlich schien alles zu funktionieren. Auch als Mann und Frau fanden sie wieder zueinander.
Doch bald warf der Krebs erneut seinen Schatten über die Beziehung. Wenn sie spazieren gingen, wenn Helmke die Wohnung putzte und saugte, immer spürte sie seine besorgten Blicke auf ihr, spürte die Aufforderung, die er nur selten aussprach: Streng dich nicht so an, du musst dich schonen. Sie wollte gesund sein. Aber in Scotts Augen würde sie wohl immer die bleiben, die sie gewesen war. Schwach, vom Tode bedroht.
Im Jahr 2005 zog Scott zurück in die USA – vorläufig endgültig. Er verstand sie. Er hatte zu sehr auf sie geachtet, sich zu viele Gedanken gemacht, aber es war ein Teufelskreis, aus dem er nicht ausbrechen konnte. In den kommenden Jahren kam er zweimal im Jahr für eine Woche zur Familie. Für alle fühlte es sich dann kurz so an, als sei er nie weggewesen. Helmke und Scott fanden nie neue Lebenspartner. Die Scheidung zögerte er hinaus, sie insistierte nicht. Alles blieb offen.
Nach der zweiten Trennung von ihm vollzog Helmke 2006 im Alter von 46 Jahren ihre bislang letzte Metamorphose, brach mit ihrem alten Beruf, kehrte zurück zu ihrem Kindheitstraum: Afrika. Helmke eröffnete ein Safari-Reisebüro. Das Geschäft florierte, bald beschäftigte sie drei Angestellte.
Helmke Sears’ Krebs ist nie zurückgekehrt. 18 Jahre hat sie ihren vorhergesagten Tod mittlerweile überlebt. Anthuber und Jauch glauben an ein Wunder. Sie selbst zweifelt immer noch – zumindest dann, wenn wieder eine Nachuntersuchung ansteht. »So war ich schon in der Schule. Eine Fünf erwarten und sich dann umso mehr über die Zwei freuen.« Sie lächelt.
Immer wieder huscht dieses Lächeln über ihr Gesicht. Auch wenn sie von ihren schlimmsten Monaten erzählt, stößt sie hier und dort auf eine kleine Anekdote, die sie amüsiert. Sie ist 54 Jahre alt. Immer noch trägt sie ihre Haare lang, immer noch ist in ihr die elegante, schöne Frau zu erkennen, die Anthuber damals kennenlernte. Für ihre Nachuntersuchungen ist sie ihm überallhin gefolgt. Sie lud ihn ein auf ihren 50. Geburtstag, dankte ihm und Jauch in einer Rede, dass
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