Patria
hier weg«, sagte er. »Aber langsam. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen.« Er merkte, dass sie immer noch verstört war von dem Mord, den sie mit angesehen hatte, und er versuchte, sie zu beruhigen: »Es wird dir wieder und wieder durch den Kopf gehen, aber irgendwann hört es auf.«
»Deine Sorge um mich ist wirklich rührend.« Ihre Stimme hatte wieder diesen drohenden Unterton.
»Ich kann dir auch etwas anderes sagen, was du dir durch den Kopf gehen lassen solltest. Das hier war wahrscheinlich nicht der letzte Mensch, der sterben musste, bevor wir diese Sache durchgestanden haben.«
Er führte sie über die Verteidigungswälle, die der Festung zum Öresund hin vorgelagert waren. Nur wenige Besucher waren hier unterwegs. Sie kamen zu der Stelle, an der der Fahnenmast stand. Früher waren hier Kanonen aufgebaut gewesen, und genau hier hatte Shakespeare die Begegnung Hamlets mit dem Geist seines Vaters stattfinden lassen. Die hohe Wand der gemauerten Terrasse reichte bis ans Wasser heran. Malone warf die Glock weit hinaus in die kabbeligen Wellen.
Von der anderen Seite der Festung näherten sich Fahrzeuge mit Alarmsirenen.
Langsam gingen Malone und Pam zum Haupteingang. Als er das Blaulicht sah und all die Polizisten, die auf das Festungsgelände zustürmten, beschloss Malone, die Anlage nicht sofort zu verlassen, sondern noch eine Weile zu warten. Es war unwahrscheinlich, dass jemand Pam und ihn beschreiben konnte, und der Mörder war bestimmt nicht geblieben, um eine Zeugenaussage zu machen. Es lag gewiss nicht in seiner Absicht, Malone verhaften zu lassen. Daher mischte Malone sich unter die Menge.
Und dann sah er den Schützen.
Fünfzig Meter vor ihm ging der Mann langsam, um möglichst keine Aufmerksamkeit zu erregen, auf das Haupttor zu.
Pam erkannte ihn ebenfalls. »Da ist der Kerl.«
»Ich weiß.«
Malone setzte sich in Bewegung.
»Du willst doch nicht etwa?«, fragte sie.
»Ich kann nicht anders.«
11
Wien, Österreich
11.20 Uhr
Der Blaue Stuhl fragte sich, ob der Vorstand die richtige Vorgehensweise gewählt hatte. Acht Jahre lang hatte Adlerklaue die ihm zugewiesenen Aufgaben pflichtschuldig erledigt. Gewiss hatten die Vorstandsmitglieder ihn gemeinsam engagiert, doch das Tagesgeschäft wurde unter der Kontrolle des Blauen Stuhls abgewickelt, und so kannte dieser Sabre besser, als die anderen es taten.
Sabre war in Amerika geboren und aufgewachsen. Es war das erste Mal, dass der Rat einen Amerikaner engagierte. Sonst hatten sie immer Europäer beauftragt, allerdings hatte auch ein Südafrikaner ihnen schon einmal gute Dienste geleistet. Alle diese Männer – auch Sabre – waren nicht nur aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeiten, sondern auch wegen ihrer körperlichen Unauffälligkeit ausgewählt worden. Sie alle waren durchschnittlich groß und schwer gewesen und hatten unauffällige Gesichtszüge gehabt. Das Einzige, was an Sabre auffiel, waren ein paar Gesichtsnarben, die von einer Windpockenerkrankung herrührten. Sabres schwarzes Haar war gerade geschnitten und erhielt durch etwas Pomade zusätzlichen Glanz. Oft lag ein Flaum von Bartstoppeln auf seinen Wangen, zum Teil, um die Narben zu kaschieren, zum Teil aber auch, wie der Blaue Stuhl wusste, um die Leute, mit denen er zu tun hatte, zu entwaffnen.
Sabre gab sich lässig und trug normalerweise Kleidungsstücke, die ihm zu groß waren, so dass sein schmaler, muskulöser Körper darunter verschwand. Auch dies tat Sabre bestimmt, um unauffällig zu wirken und die Leute dazu zu bringen, ihn zu unterschätzen.
Von den psychologischen Tests, die Sabre vor seiner Einstellung hatte durchlaufen müssen, wusste der Blaue Stuhl, dass der Amerikaner es genoss, Autoritäten herauszufordern. Gleichzeitig war bei diesen Tests aber auch deutlich geworden, dass Sabre zur Hochform auflief, wenn man ihm eine Aufgabe mit klar umrissenem Ziel gab und ihm dann freie Hand ließ.
Und genau das zählte.
Ihm und den anderen Stühlen war es vollkommen gleichgültig, wie ein Ziel erreicht wurde, das Einzige, was zählte, war das Ergebnis. Und so war die Verbindung mit Sabre fruchtbar gewesen. Dennoch war es ratsam, einen Mann ohne Gewissen und mit wenig Respekt vor Autoritäten genau im Auge zu behalten. Insbesondere dann, wenn der Einsatz hoch war. So wie jetzt.
Und so griff der Blaue Stuhl zum Telefon und wählte eine Nummer.
In der Hoffnung, von seinem Mann im Kronborg Slot zu hören, nahm Sabre den Anruf auf seinem Handy entgegen.
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