Patterson James
Ich
hielt mich krampfhaft fest und rang nach Luft.
Okay, Max, denk nach! Denk! Bring das in Ordnung! Überleg
dir etwas!
Mein Kopf war übervoll mit Gedanken, Gefühlen, Verwirrung,
Schmerzen, Wut. Ich musste mich am Riemen reißen.
Aber das schaffte ich nicht.
Es war, als hätte ich meine kleine Schwester verloren.
Und als ob ich mein Kind verloren hätte.
O Gott, Angel, Angel, Angel!
Ich schrie so laut ich konnte, ballte die Fäuste und schlug
gegen die raue Rinde des Baums, immer wieder, bis letztendlich
die Schmerzen in mein Bewusstsein drangen. Ich starrte auf
meine Knöchel, sah das Blut, die Hautabschürfungen, die
Splitter.
Die körperlichen Schmerzen waren nicht so schlimm wie die
mentalen.
Meine Angel, mein Baby, hatte man entführt. Sie war jetzt bei
den blutrünstigen Mensch-Wolf-Mutanten, die sie widerlichen
Laborschurken übergeben würden, die sie auseinander nehmen
wollten. Buchstäblich.
Dann weinte ich und klammerte mich an den Baum, als sei
dieser ein Rettungsboot der »Titanic«. Ich schluchzte und
schluchzte, bis ich glaubte, krank zu werden. Langsam ebbten
das Schluchzen und das Zittern ab. Ich wischte mit dem Hemd
mein Gesicht ab. Blutstreifen blieben darauf.
Ich saß im Baum, bis ich langsamer atmete und mein Hirn
wieder mit den meisten Zylindern arbeitete. Aber meine Hände
brachten mich um.
Anmerkung an mich: Hör auf, feste Gegenstände mit den
Fäusten zu bearbeiten.
Okay. Es war an der Zeit, hinunterzuklettern und stark zu sein.
Ich musste alle zusammenrufen und Plan B vorlegen.
Und – noch etwas – Aris letzte Worte schrien immer noch in
meinem Kopf: Wir sind die Guten.
I
ch erinnere mich nicht an den Heimflug. Mir war das Herz
gebrochen. Ich fühlte mich wie betäubt. Als wir in die Küche
gingen, sah ich als Erstes Angels Frühstücksteller auf dem
Tisch.
Iggy heulte los und fuhr mit der Hand über die Arbeitsplatte in
der Küche und schleuderte einen Becher in die Luft. Dieser traf
Fang seitlich am Kopf.
»Pass doch auf, du Idiot!«, brüllte er Iggy wütend an. Dann
wurde ihm klar, was er gesagt hatte, biss die Zähne zusammen
und blickte mich frustriert an.
Tränen strömten über meine Wangen. Ihr Salz brannte in den
Wunden, die der Eraser mir mit seinen Klauen zugefügt hatte.
Ich bewegte mich automatisch und holte den Erste-Hilfe-Kasten
und begann die Kratzer und Wunden des Gasman zu versorgen.
Ich schaute zurück. Nudges Wange blutete. Ein Schrapnell hatte
sie beim Vorbeiflug gestreift. Sie sagte aber nichts, hatte sich
nur auf der Couch zusammengerollt und weinte.
Der Gasman schaute mich an.
Wie konntest du das nur zulassen, Max?
Ich stellte mir dieselbe Frage.
Stimmt, ich war ihre Führerin. Ich bin Max, die Unbesiegbare
– aber ich bin auch ein erst vierzehn Jahre altes Kind. Und ab
und zu wird mir bewusst, dass Jeb für immer fort ist, dass wir
ganz auf uns gestellt sind und dass die anderen sich auf mich
verlassen und ich sie nicht im Stich lassen kann. Dann
überkommt auch mich das Elend. Plötzlich bin ich wieder ein
Kind und wünschte, Jeb würde zurückkommen – oder, he, ich
wünschte, ich wäre normal! Oder hätte Eltern!
Jawohl, das stimmt!
»Pass du bloß auf!«, schrie Iggy Fang an. »Was ist passiert?
Ich meine, ihr könnt doch sehen, oder? Warum habt ihr Angel
nicht zurückgeholt?«
»Sie hatten einen Hubschrauber!«, brüllte der Gasman. »Und
Kanonen! Wir sind nicht kugelfest! «
»He, Leute, beruhigt euch!«, rief ich. »Wir sind alle daneben.
Aber wir sind nicht der Feind! Die sind der Feind!«
Ich klebte dem Gasman das letzte Pflaster auf. Dann lief ich
auf und ab. »Also – seid mal eine Minute still, damit ich denken
kann«, fügte ich ruhiger hinzu. Es war nicht ihre Schuld, dass
unsere Befreiungsaktion so eine totale Pleite geworden war. Es
war nicht ihre Schuld, dass Angel weg war.
Es war aber ihre Schuld, dass die Küche aussah, als gehöre sie
einer Familie hygienescheuer Schakale, aber darum würde ich
mich später kümmern. Wann immer so etwas wieder wichtig
sein würde. Falls überhaupt jemals.
Iggy ging zur Couch und setzte sich beinahe auf Nudge. Sie
rutschte beiseite. Als er sich setzte, legte sie den Kopf an seine
Schultern. Er streichelte ihr Haar.
»Hol tief Luft!«, riet mir der Gasman. Er schaute besorgt
drein. Beinahe wäre ich wieder in Tränen ausgebrochen. Ich
hatte zugelassen, dass seine kleine Schwester entführt worden
war. Ich hatte sie nicht retten können. Und er machte
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