Patterson James
waren. Geheimnisse. Max wusste
Dinge, die kein kleines Mädchen wissen sollte. Und sie wusste,
dass sie auf keinen Fall über diese Dinge sprechen durfte.
Wenn du redest, bist du tot.
Im Gerichtssaal war es sehr still geworden, und Max wurde
bewusst, dass jeder sie anstarrte. Sie stand im gefürchteten
Rampenlicht, und sie hasste es, dort zu stehen. Das Herz schlug
ihr bis zum Hals.
»Max, sprich mit uns«, sagte ihr biologischer Vater Art, ein
netter Mann, obwohl er manchmal ein wenig rechthaberisch
war.
»Rede mit uns. Du bist hier in Sicherheit. Sag uns einfach die
Wahrheit.«
Ja, sicher. Ich sage die Wahrheit und sterbe, dachte Max
sarkastisch.
Ihre Angst war so groß, dass sie, als sie endlich aufgestanden
war, unwillkürlich mit den Flügeln schlug und ein paar
Zentimeter vom Boden abhob.
»Oooh! Aaah!«, ging ein ehrfürchtiges Raunen durch die
Zuschauermenge.
Max schnitt eine Grimasse und zwang sich, die Flügel fest
anzulegen. Dann ging sie die sieben oder acht Meter bis zum
Zeugenstand. Geh einfach weiter, Max. Sei ein normales
zwölfjähriges Kind, sagte sie sich selbst.
Sie blickte auf und bemerkte die beiden Flaggen hinter dem
Richterstuhl. Die Stars and Stripes der Vereinigten Staaten und
die Staatsflagge von Colorado mit ihren alternierenden blauen
und weißen Streifen und dem großen C mit einem gelben Kreis
darin. Darunter war eine Inschrift an die Wand geschrieben: In
God We Trust.
Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Sollte sie wirklich auf
Gott vertrauen? Hatte Gott sie erschaffen – oder waren es
Menschen gewesen?
Ein Gerichtsdiener hielt Max die Bibel hin, und sie legte eine
Hand darauf und ließ sich vereidigen. Sie begann am ganzen
Leib zu zittern. Es war so schlimm – beinahe unerträglich.
Wenn du redest, bist du tot. Und die anderen fünf auch. Und
vielleicht Kit und Frannie obendrein.
»Hab keine Angst, Max«, sagte der Ehrenwerte Richter
Dwyer, als wüsste er, was sie dachte. »Wir sind alle deine
Freunde.«
»Ja, das ist richtig«, munterte Jeffrey Kussof sie auf. »Erzähl
uns einfach deine Geschichte, Max. Wir möchten sie hören.
Jeder möchte das.«
Max nickte ihr Einverständnis, obwohl sie innerlich überhaupt
nicht einverstanden war. Dann warf sie sich das lange blonde
Haar mit einer Kopfbewegung über die Schultern, räusperte sich
und beugte sich zum Mikrofon, das vor ihr auf dem Pult
befestigt war.
Verdammt, sie wollte nicht reden. Sie wollte nicht … sie wäre
am liebsten einfach aufgesprungen und davongeflogen.
Stattdessen tat sie das Undenkbare.
Sie redete.
»Ich weiß, dass ich nur ein kleines Mädchen bin«, begann Max
mit unsicherer Stimme. »Ich weiß nicht viel über den Lauf der
Welt, weil ich noch nicht so viel von ihr gesehen habe. Aber ich
möchte über ein paar Dinge reden, die ich gesehen habe. Was
ich Ihnen sage, ist die reine Wahrheit, glauben Sie mir. Ich war
dort, Sie nicht.«
Max konnte erkennen, wie Kit und Frannie sie von ihren
Plätzen in der ersten Reihe aus genau beobachteten. Frannie
zwinkerte ihr aufmunternd zu, und fast konnte Max sie flüstern
hören:
»Nur zu, Kleines.« Das sagte Frannie die ganze Zeit. Es war
ihr Mantra, eines der zahllosen albernen kleinen Dinge, die sie
für immer miteinander verbanden.
»Die Menschen dort, wo wir früher waren … sie haben
grauenvolle, obszöne Dinge getan. In diesem Labor, das wir ›die
Schule‹ nannten«, begann Max endlich mit einer Stimme, die
zitterte wie Espenlaub im Wind. Allein der Gedanke an die
Schule machte sie unglaublich wütend.
»Kleine Babys wurden eingeschläfert, wenn sie den
Anforderungen nicht genügten. Das bedeutet, sie wurden
ermordet! Ich habe es selbst gesehen. Ich habe Leichen von
Kindern gesehen, die nicht älter waren als ich. Sehen Sie mich
an. Sehen Sie Matthew, Icarus, Ozymandias, Peter und Wendy
an. Sind wir nicht nett? Nun, wir wurden trotzdem wie
Laborratten behandelt. Meistens noch viel schlimmer als
Laborratten. Laborratten werden wenigstens durch Gesetze
geschützt.«
Max wandte sich in ihrem Sitz zu Richter Dwyer um.
Vielleicht konnte er ihr helfen. Sie wollte nichts weiter als
flüchten. Ihre Flügel raschelten. Es war das einzige Geräusch im
ganzen Saal.
»Wir wurden zum Verkauf angeboten! Noch immer wollen
Leute uns kaufen! Um schreckliche Experimente mit uns
durchzuführen! Um herauszufinden, wie wir funktionieren! « , sagte Max.
»Ständig kamen irgendwelche Besucher in die Schule, um uns
zu
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