Patterson James
Toten!«
Die Spender.
ERSTES BUCH
VORMUNDSCHAFT
Sie nannten den Prozess die »Mutter aller
Vormundschaftsverhandlungen«, was vielleicht erklären
mochte, wieso an jenem warmen Frühlingstag fünfzigtausend
Menschen nach Denver gekommen waren.
Der Fall galt außerdem als möglicherweise explosiver und
aufrührender als Baby M. oder Elian Gonzales oder O. J.
Simpsons Schlacht gegen Wahrheit und Anstand. Ich dachte bei
mir, dass dieses Mal der Hype in den Medien durchaus passend
und angemessen war, sogar vielleicht ein klein wenig zu
unterkühlt.
Das Schicksal von sechs außergewöhnlichen Kindern stand
auf dem Spiel.
Sechs Kindern, die in einem Labor erschaffen worden waren
und Geschichte gemacht hatten, sowohl in wissenschaftlicher als
auch in philosophischer Hinsicht.
Sechs bewundernswerten, warmherzigen Kindern, die ich
liebte, als wären sie meine eigenen.
Max, Matthew, Icarus, Ozymandias, Peter und Wendy.
Die eigentliche Verhandlung sollte planmäßig in einer Stunde
im City and County Building beginnen, einem glänzend weißen
neoklassizistischen Gerichtsgebäude mit einem
architektonischen Stil, der unverwechselbar »juristisch« wirken
sollte. Der Bau besaß einen spitzen Ziergiebel, der genauso
aussah wie der des U. S. Supreme Court Building.
Ich saß mit Kit auf den Vordersitzen meines treuen alten,
verbeulten und staubigen blauen Suburban. Wir parkten einen
Block vom Gerichtsgebäude entfernt an einer Stelle, von der aus
wir alles beobachten konnten, ohne selbst gesehen zu werden –
wenigstens bis zu diesem Zeitpunkt.
Ich hatte mir vor Nervosität die Fingernägel bis hinunter auf
das Bett abgekaut, und Kits Wangenmuskeln zuckten
verdächtig.
»Ich weiß, ich weiß, Frannie«, hatte er vor einer Sekunde
gesagt. »Mein Gesicht zuckt wieder.«
Wir hatten auf Vormundschaft für die Kinder geklagt, und wir
wussten, dass die volle Macht des Gesetzes gegen uns war. Wir
waren weder verheiratet noch mit den Kindern verwandt, und
ihre biologischen Eltern waren keine schlechten Menschen. Es
sah überhaupt nicht gut aus für uns.
Das Einzige, was für uns zählte, war unsere unerschütterliche
Liebe zu diesen Kindern, mit denen wir durch die Hölle
gegangen waren, und ihre Liebe zu uns.
Nun mussten wir nichts mehr weiter tun, als zu beweisen, dass
es im besten Interesse der Kinder war, bei uns aufzuwachsen –
und das bedeutete, dass ich eine Geschichte würde erzählen
müssen, die selbst in den Ohren meiner besten Freunde und
Freundinnen verrückt klang – manchmal sogar in meinen
eigenen.
Doch jedes einzelne Wort davon entsprach der Wahrheit, so
wahr mir Gott helfe.
Die erstaunliche Geschichte hatte ihren Anfang sechs Monate
zuvor in einem winzigen Kaff namens Bear Bluff genommen,
etwa fünfzig Meilen nordwestlich von Boulder, Colorado,
gelegen, am Peak-to-Peak Highway.
Ich fuhr eines Nachts spät nach Hause, als ich plötzlich eine
hellweiße Gestalt entdeckte, die nicht weit von meinem Zuhause
Hals über Kopf durch die Wälder rannte. Dann erkannte ich,
dass es sich um ein junges Mädchen handelte.
Doch das war nur ein Teil dessen, was ich sah. Ich bin
Tierärztin, und mein Gehirn wollte nicht akzeptieren, was meine
Augen ihm sagten, also hielt ich den Wagen an und stieg aus.
Das fremde Mädchen mochte elf oder zwölf Jahre alt sein, mit
langen blonden Haaren und einem locker sitzenden weißen
Kinderkittel, der an mehreren Stellen zerrissen war und fleckig
von Blut. Ich ächzte erschrocken und musste mich buchstäblich
an einen Baumstamm lehnen. Alles in mir sträubte sich gegen
diesen Anblick, der mir vollkommen absurd erschien.
Doch meine Augen hatten mich nicht belogen. Das Mädchen
besaß zwei merkwürdig verkürzte Arme sowie – Flügel!
Sie hatte Flügel mit einer Spannweite von ungefähr drei
Metern. Die Arme befanden sich irgendwie unterhalb der
Flügel. Sie besaß vier obere Gliedmaßen. Und die Flügel passten
absolut perfekt. Ein außergewöhnlicher Anblick, sowohl vom
wissenschaftlichen als auch vom ästhetischen Standpunkt her
betrachtet. Es war eine bewusstseinserweiternde Erfahrung.
Das Mädchen war verletzt, und deswegen gelang es mir auch
schließlich, sie mit einem Netz einzufangen und zu betäuben,
wobei mir ein FBI-Agent namens Thomas Brennan half, den ich
als »Kit« kannte. Gemeinsam brachten wir das Mädchen zu
meiner kleinen Tierklinik, dem Inn-Patient, wo ich sie gründlich
untersuchte. Sie hatte ein überdimensionales
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