Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
Er hatte ihn schon so oft gesehen.
Nach wenigen spannungsgeladenen Augenblicken war er draußen vor dem Kennedy Center. Mit ruhigen Schritten ging er zur New Hampshire Avenue. Er war einer in der Menge.
Der Song »Seems Like Old Times« schoss ihm durch den Kopf. Die Melodie ging viel zu schnell, als würde man eine Platte mit doppelter oder dreifacher Geschwindigkeit spielen. Er erinnerte sich, wie er das Lied beim Hineingehen gesummt hatte. Und wie der Fotoreporter wusste, waren die alten Zeiten ganz klar die besten.
Jetzt kehrten die alten Zeiten zurück, nicht wahr?
Jack und Jill kamen zum Capitol Hill.
Das Spiel war so wunderschön, so fein, so erlesen .
Und jetzt war es zum Schrecken aller geworden.
45.
Agent Jay Grayer rief mich vom Autotelefon zu Hause an. Ich war gerade vollauf damit beschäftigt, ungefähr zweihundert Berichte der uniformierten Abteilung des Geheimdienstes über den Background der Mitarbeiter im Weißen Haus durchzugehen. Der stellvertretende Direktor jagte mit hundertvierzig Kilometern die Stunde über die Umgehungsstraße zum Kennedy Center. Ich hörte die Sirene seines Autos heulen.
»Sie haben wieder zugeschlagen. Mein Gott, sie haben heute Abend im Kennedy Center zugeschlagen. Direkt vor unseren Augen. Und es ist wieder eine verdammt schlimme Sache, Alex. Kommen Sie bloß her!« Seine Stimme hörte sich an, als hätte er die Beherrschung verloren.
Kommen Sie bloß her!
»Sie haben in der Pause von Miss Saigon zugeschlagen. Ich treffe Sie im Kennedy Center, Alex. Ich bin sieben bis zehn Minuten von dort entfernt.«
»Wer war es diesmal?«, stellte ich die HunderttausendDollar-Frage. Beinahe wollte ich die Antwort nicht hören. Nein, nicht beinahe. Ich wollte den Namen des Opfers überhaupt nicht hören.
»Das ist ein Teil des Problems. Die ganze Sache ist total verrückt. Das Opfer war diesmal anders als die anderen. Niemand, den man kennen müsste.«
»Niemand, den man kennen müsste? Was meinen Sie damit?«
»Kein Prominenter. Sie ist Jurastudentin an der Georgetown University. Charlotte Kinsey. Sie war erst dreiundzwanzig Jahre alt. Die Mörder haben wieder einen ihrer Zettel hinterlassen. Es waren wieder Jack und Jill, das steht fest.«
»Das kapiere ich nicht. Ich kapiere es einfach nicht«, murmelte ich ins Telefon. »Verflucht noch mal.«
»Ich begreife es auch nicht. Vielleicht hat die Kleine sich die Kugel eingefangen, die für jemand anders bestimmt war. Sie war mit einem Richter vom Obersten Gerichtshof in der Vorstellung, Alex. Thomas Henry Franklin. Vielleicht war die Kugel für ihn bestimmt. Das würde ins Promimuster passen. Vielleicht haben Jack und Jill endlich einen Fehler gemacht.«
»Ich bin schon unterwegs«, sagte ich zu Jay Grayer. »Ich treffe Sie im Kennedy Center.«
Vielleicht haben sie endlich einen Fehler gemacht.
Ich glaubte es nicht.
46.
Es war niemand, den man kennen müsste, Alex. Wie zum Teufel konnte das sein?
Eine dreiundzwanzigjährige Jurastudentin aus Georgetown war tot. Verdammt, verdammt, verdammt! Das ergab keinen Sinn für mich, überhaupt keinen. Es warf alles über den Haufen. Es passte nicht zur bisherigen Methode, zum bisherigen Muster.
Ich fuhr in Rekordtempo von unserem Haus zum Kennedy Center. Jay Grayer war nicht der Einzige, der ziemlich aus dem Häuschen war. Ich setzte das Blinklicht aufs Autodach und fuhr wie der Teufel.
Die zweite Hälfte von Miss Saigon war abgesagt. Der Mord war vor knapp einer Stunde geschehen. Immer noch waren hunderte von Gaffern am Tatort.
Ich hörte mehrmals, wie einige »Jack und Jill« murmelten, während ich mir den Weg ins Große Foyer bahnte. In der Menge konnte man die Angst beinahe greifen. Viele Aspekte des Mordes im Kennedy Center machten mir zu schaffen, als ich um Viertel nach zehn den Tatort erreichte. Es gab Ähnlichkeiten mit den anderen Jack-und-Jill-Morden. Eine mehr oder weniger poetische Botschaft war zurückgelassen worden. Der Mord war eiskalt und profimäßig ausgeführt worden. Ein einziger Schuss.
Doch diesmal gab es auch Riesenunterschiede. Jack und Jill schienen von ihrem Schema abzuweichen.
Ein Trittbrettfahrer-Mord? Möglich. Ich glaubte es nicht. Aber man durfte und konnte nichts als unmöglich abtun. Weder ich noch sonst jemand, der an diesem Fall arbeitete.
Ich zerbrach mir über die neuen Entwicklungen den Kopf, während ich mich durch die neugierige, entsetzte, mitunter fassungslose Menschenmenge auf der Hampshire Avenue drängte. Die Jurastudentin war keine
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