Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
Kevin Hawkins schob sich vorsichtig näher an den Richter und seine schöne Begleiterin heran, machte weitere Gedankenfotos von den beiden.
Ihm fiel auf, dass Franklins weißes Hemd eine Nummer zu klein war und ihm den Hals einschnürte. Und die gelbe Seidenkrawatte war zu schreiend für den grauen Anzug. Charlotte Kinsey lächelte auf unwiderstehlich reizende Art. Sie hatte schöne runde Brüste. Ihr langes schwarzes Haar blähte sich in der Brise.
Kevin Hawkins ging tatsächlich auf Körperkontakt mit den beiden. So nahe kam er an Charlotte und Thomas heran. Er berührte das glänzende Haar der Jurastudentin. Er roch ihr Parfüm. Opium oder Shalimar. Schnappschuss.
Er war direkt dran. Hautnah.
Sein Gedankenauge schoss ein Foto nach dem anderen von dem Paar. Nie würde er etwas vergessen von dem, was er sah, kein einziges intimes Bild vom Schauplatz des Mordes.
Kevin Hawkins konnte sehen, hören, berühren, riechen, aber er konnte nichts fühlen, rein gar nichts.
Jetzt widersetzte er sich sämtlichen menschlichen Regungen, so schwach sie bei ihm auch waren. Kein Mitleid. Keine Schuld. Keine Scham. Und keine Gnade.
Die Jurastudentin trug eine Ledertasche über der linken Schulter. Die Tasche war einen Spalt offen. Das reichte. Was für eine sorglose junge Frau.
Der Fotoreporter war geschickt mit den Händen. Immer noch geschickt. Immer noch ruhig. Immer noch sehr schnell. Immer noch einer der Besten.
Er ließ etwas in ihre Tasche gleiten. C’est ça. Das war’s! Treffer. Der erste in dieser Nacht.
Charlotte und Richter Franklin bemerkten weder die flüchtige Bewegung noch ihn . Dann war er blitzschnell wieder in der Menge verschwunden. Er war die Brise vom Fluss, die Nacht oder das Mondlicht.
In diesem Moment spürte Hawkins ein unglaubliches Hochgefühl. Nichts auf der Welt war damit zu vergleichen. Die Macht, einem anderen das Leben zu nehmen, zu stehlen , war mit nichts auf der Palette menschlicher Erfahrungen zu vergleichen.
Der schwierige Teil war vorüber. Das wusste er. Die Arbeit in unmittelbarer Nähe des Opfers. Jetzt folgte der schlichte Akt des Tötens.
In der Öffentlichkeit.
Und sich nicht erwischen lassen.
Plötzlich machte sein Herz einen Satz, schlug schreckliche Kapriolen. Irgendetwas ging schief. Sehr schief. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Verdammt!
Charlotte Kinsey griff in ihre Tasche.
Schnappschuss.
Sie hatte den Zettel gefunden, den er dort hinterlegt hatte – die Botschaft von Jack und Jill! Verdammt. Das ging schief.
Schnappschuss.
Neugierig betrachtete sie das Blatt Papier. Fragte sich, was es bedeutete. Fragte sich, wie es in ihre Handtasche gekommen war.
Sie faltete das Blatt auseinander. Hawkins spürte ein entsetzliches Hämmern in den Schläfen. Jetzt hatte die junge Frau die Aufmerksamkeit des Richters geweckt. Auch er blickte auf das Papier.
Neiiiin. O Gott, neiiin, hätte Hawkins am liebsten gebrüllt.
Er handelte jetzt rein instinkthaft. Keine Zeit mehr, lange Überlegungen anzustellen.
Schnell und sicher bewegte er sich voran.
Seine Luger baumelte unterhalb des Handgelenks. Die Waffe war wegen der Menschenmenge, in diesem Wald aus Armen und Beinen, Hosen mit Bügelfalten und weiten rauschenden Röcken, mehr oder weniger verborgen.
Er hob die Luger und gab einen einzigen Schuss ab. Schwieriger Winkel. Sehr ungünstig. Er sah, wie plötzlich das Karmesinrot erblühte. Der Körper zuckte, krümmte sich und sank auf den Marmorfußboden.
Ein Blattschuss! Ein Wunder oder fast eins. Gott war auf seiner Seite, nicht wahr?
Schnappschuss!
Schnappschuss!
Sein Herz machte beinahe nicht mehr mit. Er war dieses Improvisieren nicht gewöhnt.
Nach all den Jahren dachte er daran, ob man ihn erwischen würde – und ausgerechnet bei einem so unglaublich wichtigen Job. Er hatte die Vision völligen Versagens. Er fühlte ... erfühlte etwas .
Er ließ die Luger in das Gewirr aus Beinen, Hosen, Satin- und Taftroben, Schuhen mit hohen Absätzen und glänzend poliertem Korduanleder fallen.
»War das ein Schuss?«, kreischte eine Frau. »O Gott, Philip. Jemand ist erschossen worden .«
Hawkins wich von dem Spektakel zurück, genau wie alle anderen. Das Große Foyer schien in Flammen zu stehen.
Er war ein Teil der Menschenmenge, ein Teil der verängstigt davonstürzenden Herde. Er hatte nichts mit der schrecklichen plötzlichen Störung zu tun, mit dem Mord, dem Schuss.
Sein Gesicht war eine überzeugende Maske des Schocks und der Fassungslosigkeit. Gott, er kannte diesen Ausdruck so gut.
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