Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
sofort zum Tatort fahren«, sagte ich zu Jay.
»Ich muss das Haus sehen. Ich muss da draußen sein, nicht
hier.«
»In Ordnung, aber warten Sie noch einen Moment, Alex«,
sagte er. »Ich möchte Ihnen noch den Rest erzählen. Es kommt
noch schlimmer.«
»Großer Gott. Wie könnte es denn noch schlimmer kommen? Das ist doch gar nicht möglich«, sagte ich.
»O doch. Glauben Sie mir. Also, hören Sie mir einen Moment zu.«
Agent Grayer sprach mit unterdrückter Stimme weiter, während wir auf dem Korridor des Weißen Hauses zur Befehlsleitstelle des Krisenstabes gingen, wo sich die anderen versammelt
hatten. Wenige Schritte vor dem Besprechungszimmer nahm
Jay mich beiseite. Jetzt flüsterte er.
»Der Präsident wird jeden Morgen um Viertel vor fünf vom
Dienst habenden Agenten geweckt. Jeden Morgen. Heute Früh
hat der Präsident sich angezogen und ist in die Bibliothek gegangen, wo er die Morgenzeitungen liest und eine Zusammenfassung aller wichtigen Vorkommnisse, die für ihn erarbeitet
wird, noch ehe er aufsteht.«
»Was ist heute Morgen passiert?«, fragte ich Jay. Langsam
kam ich ins Schwitzen. »Was ist passiert, Jay?«
Er war so gründlich und tat alles genau nach Vorschrift. »Um fünf Uhr klingelte das Telefon in der Bibliothek. Es war Jill, auf der Privatleitung. Sie hat angerufen, um mit dem Präsidenten zu sprechen. Sie ist zu ihm durchgekommen – und das
ist einfach nicht möglich .«
Unwillkürlich wackelte ich mit dem Kopf. Jay Grayer hatte
Recht: Das war ein Ding der Unmöglichkeit. Es war ein überaus quälender Gedanke, dass der Präsident nun das Ziel der
Mörder war. Und dass wir bisher nicht im Stande waren, dies
zu verhindern, war noch viel, viel schlimmer.
»Ich glaube, ich weiß, warum der Anruf unmöglich war, aber
sagen Sie es mir trotzdem«, bat ich Jay Grayer. Ich musste es
von ihm hören.
»Jeder Anruf im Weißen Haus geht über eine private Schaltstelle. Danach wird der Anruf von einer zweiten Vermittlung
des Weißen Hauses überprüft, die in Wahrheit zu unserer Geheimdienstabteilung gehört. Jeder Anruf – abgesehen von diesem . Dieser Anruf ist vollkommen am Kontrollsystem vorbeigelaufen. Niemand weiß, wie das passieren konnte. Aber es ist
passiert.«
»Dieser Anruf, der nicht passieren konnte – wurde er aufgezeichnet?«, fragte ich.
»Ja, natürlich. Er wird bereits in der FBI-Zentrale und bei
der Bell Atlantic draußen in White Oak bearbeitet. Jill hat ein
Filtersystem benutzt, um die Stimme zu verändern, aber es gibt
Möglichkeiten, die Stimmveränderungen rückgängig zu machen. Das halbe High-Tech-Labor Baby Bells arbeitet schon
fieberhaft daran.«
Wieder schüttelte ich den Kopf. Ich konnte das alles nicht
glauben. »Was hat Jill gesagt?«
»Zuerst einmal hat sie sich zu erkennen gegeben. Sie sagte:
›Hallo, hier spricht Jill.‹ Ich bin sicher, damit hatte sie schneller die Aufmerksamkeit des Präsidenten als seine übliche Tasse
voller Neuigkeiten. Dann sagte sie: ›Mr. Präsident, sind Sie
bereit zu sterben?‹«
59.
Ich musste das Haus sehen. Ich musste die Stelle sehen, an der General Cornwall und sein Sohn ermordet worden waren. Ich musste alles über die Mörder und ihre Vorgehensweise erfahren ... sehen ... spüren.
Mein Wunsch wurde erfüllt. Noch vor neun Uhr an diesem Morgen war ich in McLean. Der Dezembertag war grau und wolkenverhangen. Das Haus der Cornwalls sah surreal, abweisend und kalt aus, als ich näher kam und durch die Vordertür eintrat. Auch drinnen war es kalt. Entweder weigerte sich die Familie Cornwall, zur Kenntnis zu nehmen, dass Winter herrschte, oder sie wollte Geld beim Heizen sparen.
Der Doppelmord war im ersten Stock begangen worden. General Aiden Cornwall und sein neunjähriger Sohn lagen im Flur, immer noch auf dem Rücken.
Es war ein eiskalter, gut geplanter, sehr profihafter Mord. Der Tatort war wie aus dem Lehrbuch, vielleicht sogar wie einer aus meinem Notizbuch. Er ähnelte einem Mord aus einem forensischen Unterrichtswerk – beinahe zu sehr.
Überall im Haus waren FBI-Techniker und Gerichtsmediziner zugange. Es waren wohl über zwanzig Personen.
Gleich nach meiner Ankunft begann es heftig zu regnen. Die Autos und Fernsehübertragungswagen, die nach mir eingetroffen waren, hatten die Scheinwerfer eingeschaltet. Es war unheimlich, gespenstisch.
Jeanne Sterling entdeckte mich im oberen Korridor. Zum ersten Mal schien die CIA-Generalinspekteurin erschüttert zu sein. Der ständige
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