Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
Situation nicht gedacht.«
Paul sah Lena noch eine Weile unschlüssig an. Dann raffte er sich auf. »Ich habe für heute genug gehört und gesehen«, sagte er. »Es sind drei Menschen gestorben für dieses Bild. Ich durchschaue deine Rolle noch nicht ganz. Ich kann dir nur glauben, dass du in keinem der Fälle vorsätzlich gehandelt hast. Wobei ich mir beim Tod des Studenten am wenigsten sicher bin.«
Er hob das Glas und bewegte die Flüssigkeit darin durch sanfte Kreiselbewegungen. Er versuchte, die eben bestätigten Taten seiner langjährigen Freundin gegen seine bisherige Einschätzung ihrer Persönlichkeit aufzurechnen. Er musste eine schwierige Entscheidung treffen: Konnte er Lena noch einen Funken Vertrauen entgegenbringen oder musste er sich hier und jetzt von ihr distanzieren und alle Brücken abbrechen?
»Ich werde dich morgen früh abholen«, sagte er schließlich. »Wir werden gemeinsam zur Polizei gehen. Du wirst alles zu Protokoll geben.« Er wartete eine Reaktion von ihr ab, aber da kam nichts, nur ungläubiges Staunen. »Ich bin dein Freund. Ich werde dir beistehen und dir helfen, einen guten Anwalt zu besorgen.« Jetzt führte er das Glas zu seinem Mund und trank. Er hatte sich dafür entschieden, Lena zu vertrauen – zumindest, was sein eigenes Leben anbelangte. »Wie du siehst, gehe ich nicht davon aus, dass du mich vergiften wolltest. Dennoch habe ich eine kleine Vorsorgemaßnahme ergriffen – für den Fall, dass du noch einmal auf dumme Gedanken kommen solltest: Draußen im Flur steht ein Polizist. Es ist noch nicht die Kripo, sondern unser Stadtteilpolizist. Er wird ein Auge auf deine Wohnung haben, während du in dich gehst.«
Paul griff nach seinem Mantel. Lena, noch immer stumm und mit undurchschaubarer Miene, wollte ihm den Zylinder mit dem Bild wieder abnehmen, aber Paul hielt ihn fest.
»Der Dürer bleibt über Nacht bei mir. Er hat dir kein Glück gebracht«, sagte Paul.
»Aber …«, war alles, was Lena entgegnete, bevor ihre Arme schlaff und willenlos nach unten fielen.
»Er ist mein Pfand.« Paul ging ohne ein weiteres Wort.
35
Die Nacht mit Dürers Mätresse war schlaflos.
Paul hatte – kaum zu Hause – die Zeichnung vorsichtig entrollt und sorgsam an einer Staffelei aus seinem Fundus befestigt. Er hatte das Bild direkt unter dem Oberlicht aufgestellt, über dem die grelle Sichel des Mondes stand, und den Hocker aus seinem Labor davorgeschoben. Er hatte diese unbequemste aller Sitzgelegenheiten gewählt, um wach zu bleiben. Bloß nicht entspannen.
Er beugte sich weit vor und starrte auf die Zeichnung. Die Frau, wenige Zentimeter vor ihm, war eine zweidimensionale Zeichnung, doch Dürer hatte eine dritte Dimension geschaffen. Er hatte sie so geschickt in Szene gesetzt, dass sie plastisch wirkte und aus dem Bild heraustrat.
Die Frau, die Pauls Blick kokett zu erwidern schien, war eine erfahrene Liebhaberin. Männer konnten ihr nichts vormachen, das verrieten ihr wissender Blick und der zynische Zug um ihren sinnlich aufgeworfenen Mund. Dürer hatte tief und feinfühlig gearbeitet. Ein Frauenakt, derb und grob und gleichzeitig voller Zartgefühl und Liebe.
Paul bemerkte erneut die merkwürdigen Schriftzeichen im Hintergrund, die bei näherem Hinsehen wie verdrehte Buchstaben wirkten. Doch er konnte beim besten Willen keinen Sinn in ihnen entdecken. Es fiel ihm ohnehin schwer, sich auf die Buchstaben zu konzentrieren, denn immer wieder wurden seine Blicke abgelenkt und auf das Seidentuch geführt – und damit auf die Schenkel. Das weiße Fleisch glänzte und schimmerte, es wirkte beinahe so authentisch wie auf einer Fotografie. Die Beine, die scheinbar willkürlich dahingestreckt lagen, hatte der Künstler so angeordnet, dass sie ein geschickt kaschiertes Netzwerk der Linienführung bildeten. Linien, die sich trafen und gemeinsam zu einem Zentrum führten. Ein wollüstiges Zentrum – im Schoß der Frau.
Die grelle Wintersonne riss Paul am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Ihm schmerzten die Glieder. Er war auf seinem Sofa eingeschlafen. Paul blickte benommen zu der Zeichnung hinüber. Die Mätresse hatte viel von ihrer Magie verloren. Die Frau auf dem Bild wirkte jetzt weit weniger verrucht und verführerisch als in der Nacht. Sie schaute ihn mit erbauender Frische an, als wollte sie ihm im nächsten Moment das Frühstück ans Bett bringen.
Paul ließ sich Zeit beim Zähneputzen und Duschen.
Er ging wie jeden Morgen zum Bäcker. Die Semmeln waren zu groß. Wie
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