Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
Eskapaden geschwiegen. Und den Streit am Glühweinfass konnte nur jemand beobachten, der über dem ganzen schwebte oder eben sehr weit oben stand – du mit deinem Teleobjektiv! Deswegen habe ich die Fotos unbedingt haben wollen und war erst dann einigermaßen beruhigt, als ich sie mit dir gemeinsam angesehen und erkannt hatte, dass sie keine echte Gefahr für mich darstellten.«
»Das erklärt viel, macht aber nichts wieder gut. Du hast mich von Anfang an für dumm verkauft.« Paul nahm Lena mit einem entschiedenen Griff das Bild ab. »Lass uns zurück nach oben gehen.«
In ihrer Wohnung war es nach wie vor sehr warm, der totale Kontrast zum kühlen Weinkeller. Paul ging zielstrebig zum Couchtisch und setzte sich. »Du bist mir noch eine Erklärung über den Tod des Stadtstreichers schuldig«, sagte er bestimmt.
Lena kam langsam auf die Couch zu und setzte sich. »Diese gescheiterte, traurige Figur hatte eine Kopie angefertigt. Ohne jede Rücksprache hatte dieser Idiot einfach ein Duplikat gezeichnet! Ich hatte ihn um seinen Rat gebeten. Den habe ich ihm teuer bezahlt. Er hätte sich nicht beschweren können.
Dieser arme Irre. Er hatte mir oft von seinem Leben erzählt. Von seiner Lehre als Kirchenmaler. Die haben ihn ein halbes Jahr in die tiefste Provinz geschickt. Er sollte im letzten Winkel von Oberbayern eine Kapelle im Schwarzen Barock restaurieren. Nur die Farbe schwarz und Gold als einziger Kontrast. Eine einsame Arbeit. Abends keine Zerstreuung außer der Dorfkneipe.
Der Job ödete ihn an, er wollte mehr. Doch im Studium war er ganz auf sich gestellt, scheiterte daran, sich selbst zu organisieren, und hatte einen Hang zum Alkohol, den er nicht unter Kontrolle bekam. Er stürzte ab. Die Kirche schützte ihn, aber er hatte kein Geld und keine Zukunft. Vielleicht hätte ich es ahnen müssen. Kann man einem Säufer vertrauen? Kann man überhaupt einem Menschen vertrauen? Er hatte seine Kopie versteckt. Er hatte ja jede Menge Möglichkeiten in seinem Labyrinth auf dem Kirchendach. Er redete wirr daher, aber ich bestand darauf, dass er das Bild herausrückte, weil er sonst meinen ganzen Plan gefährdet hätte.
Er jonglierte über den Balken des Gewölbes wie ein Zirkusaffe und lachte aufgesetzt. Schließlich hielt er das Duplikat in den Händen. Er spielte mit mir, lief weg, wedelte mit dem Bild durch die Luft. Mir wurde angst und bange. Ich bot ihm erneut Geld an. Er hätte davon gut und gern ein Jahr leben können. Sorgenfrei. Vielleicht die Chance für einen Neuanfang. Er kletterte auf den dünnen Planken des Mittelschiffs herum. Er schrie und brüllte und zog dumme Grimassen. Völlig durchgedreht, der Typ. Ich hatte Angst, riss mich aber zusammen und versuchte mich ihm langsam zu nähern. Schritt für Schritt. Ich streckte meine Arme aus, unter mir die Kuppeln des Gewölbes, wenig Vertrauen erweckend, bestimmt nicht trittsicher.
Ich bekam das Bild zu fassen. Aber er zerrte daran und schimpfte. Beleidigte mich. Ich musste all meine Kräfte aufwenden. Es war ein bisschen so wie bei den alten Kinderspielen. Der Stärkere gewinnt. Sein Handikap war, dass er an diesem Tag schon früh damit angefangen hatte zu trinken. Ein Ruck, und das Bild war frei, die Rolle Papier sicher in meinen Händen. Ich lachte. Es hallte laut wider. Der Dachboden ist riesig. Der Ruck ließ den Studenten nach hinten fallen. Direkt in das Loch, die kreisrunde Öffnung über dem Sebaldusgrab. Ich sah ihn an, sah, wie er ins Leere fiel.«
Paul war wie erstarrt. Er brauchte einige Minuten, um das Gehörte zu verarbeiten. »Lena«, sagte er dann matt. »Ich kann kaum glauben, dass du dich auf sein Versteckspiel eingelassen hast! Wie konntest du ernsthaft annehmen, dass der Mann nicht noch mehr Spuren hinterlassen hat, die zu dem Bild geführt hätten? Natürlich gab es mehr als nur eine Kopie!«
Lena wirkte nicht sonderlich überrascht. »Ich habe jedenfalls nur von der einen gewusst.«
»Ich selbst habe auf dem Kirchendachboden ebenfalls eine gefunden«, brauste Paul auf. »Sie war gut versteckt, aber nicht unmöglich zu finden. Deine Auseinandersetzung mit dem Ex-Studenten war absurd, denn sie hat rein gar nichts zu deiner Sicherheit beigetragen.«
Lena war anzumerken, dass sie diese Wahrheit nicht an sich heranlassen wollte: »Es gibt Augenblicke, in denen rationales Handeln einfach nicht möglich ist«, rechtfertigte sie sich. »Mir ging es einzig und allein darum, mein Geheimnis zu schützen – weiter habe ich in dieser
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